Der Ohrförmige Weißseitling oder Ohrförmige Seitling (Pleurocybella porrigens, Syn.Phyllotus porrigens, Nothopanus porrigens)[1] ist eine über die Nordhalbkugel weit verbreitete Pilzart der Champignonartigen (Agaricales), die in Japan bei nierenkranken Personen zu Todesfällen geführt hat.
Die recht dünnfleischigen Fruchtkörper des Ohrförmigen Weißseitlings wachsen meist büschelig oder dachziegelartig übereinander. Sie sind stiellos (manchmal mit stummelartigem Stiel), 2–10(12) cm lang und 2–5 cm breit und spatel- bis ohr-, später muschelförmig. Die weißen bis cremegelblichen und im Alter manchmal etwas gilbenden Lamellen haben glatte Schneiden, stehen gedrängt, sind teilweise gegabelt und laufen an der Anwuchsstelle in einem Punkt zusammen. Die Hutoberfläche ist durchscheinend bis opak, weiß bis schwach cremegelblich im Alter, glatt und höchstens am Rand und an der Anwuchsstelle feinfilzig, im Alter aber verkahlend, am Rand durchscheinend gerieft und erst eingerollt, später flatterig und gelappt.[2] Das Fleisch ist weißlich, dünn, nirgends gelatinös[3] und riecht und schmeckt unauffällig pilzartig bis schwach krautig.[2] Das Sporenpulver ist weiß.
Der Ohrförmige Weißseitling wächst saprobiontisch an totem Nadelholz, an Stümpfen, liegenden Stämmen oder dickeren Ästen in der Optimal- bis Finalphase der Vermorschung (auch an feucht liegendem, verbautem Holz)[4]. Er bevorzugt kühle und feuchte Umgebungen, kommt gern auf bemoostem, feuchten Holz auf oft moorigen, nährstoff- und basenarmen Böden vor. In Mitteleuropa werden Fichten und Weiß-Tannen als Substrate bevorzugt, während in Nordeuropa Kiefern das häufigste Substrat darstellen.[2] Außerhalb Europas werden auch weitere Nadelbäume besiedelt, beispielsweise Hemlocktannen in Nordamerika oder die Japanische Zeder in Japan.
Die Art fruktifiziert von August bis Anfang November, bei kühler, feuchter Witterung bereits ab Ende Juni.[2]
Der Ohrförmige Weißseitling wurde in Deutschland aufgrund seiner Seltenheit nur vereinzelt konsumiert. In Japan galt er lange als beliebter Speisepilz, der beispielsweise in Miso-Suppen vielfach gegessen wurde, bis im Jahr 2004 infolge einer Massenfruktifikation der Art durch günstige Witterungsbedingungen 50 Vergiftungsfälle auf den Pilz zurückgeführt werden konnten, von denen 15 tödlich endeten.
Nach einigen Jahren Forschungsarbeit wurde 2010 Pleurocybellaziridin (3,3-Dimethylaziridin-2-carbonsäure) als hoch reaktiver Aziridin-Aminosäure-Vorläufer der toxischen Aminosäuren, die für die Symptome verantwortlich sind, identifiziert.[6] Da das Toxin über die Niere ausgeschieden wird, erkranken nierengesunde Menschen nicht, während sich das Toxin bei nierenkranken Personen im Körper anreichert, die Blut-Hirn-Schranke passiert und schließlich die Enzephalopathie verursacht.
Allerdings scheint der Pleurocybellaziridin-Gehalt in den Pilzfruchtkörpern je nach Jahr und Region zu schwanken, weshalb nicht immer Toxine in kritischer Menge ausgebildet werden. So sind Fälle bekannt, in denen nierenkranke Personen infolge des Verzehrs von Ohrförmigen Weißseitlingen keine Symptome entwickelten.
Bereits 1997 starb eine nierenkranke und dialysepflichtige Frau infolge des Konsums von Ohrförmigen Weißseitlingen. Besonders in den Jahren 2004 und 2007 kam es in Japan zu einer Vielzahl von Vergiftungen nierengeschädigter Personen, wovon etliche tödlich endeten. Aufgrund einer Warnung der japanischen Gesundheitsbehörde vor dem Konsum des Pilzes gingen die Vergiftungen seitdem deutlich zurück.
Vergiftungen mit dem Ohrförmigen Weißseitling sind bisher ausschließlich aus Japan bekannt.[7]
Artabgrenzung
Die Art ist an der Kombination von ihrem Wachstum an Nadelholz und den durchscheinend weißlichen, besonders jung eingerollten und stiellosen Fruchtkörpern gut erkennbar.
Echte Seitlinge (Pleurotus) wie der Lungen- oder der Austern-Seitling wachsen meist an Laubholz. An Nadelholz wachsende Exemplare können anhand ihrer dickeren, oft bräunlich oder blaugräulich gefärbten Fruchtkörper, weiße Exemplare anhand ihres Stiels unterschieden werden.
Stummelfüßchen (Crepidotus) sind nicht eingerollt, zumeist kleiner und haben braunes Sporenpulver. Die größte Art, das Gallertfleischige Stummelfüßchen, hat zudem eine gallertartig dehnbare Huthaut.
Der Milde Zwergknäueling (Panellus mitis) bleibt mit bis zu 3 Zentimetern kleiner und hat einen abgesetzten, striegeligen Stiel.
Der seltene Kreide-Muscheling (Cheimonophyllum candidissimum) ist kleiner, nicht eingerollt und wächst an Laubholz.
Namensgebung
Etymologie
Der Gattungsname setzt sich aus den griechischen Wörtern „pleuron“, was mit „laterale Seite“ übersetzt werden kann, und „kybe“, was „Kopf“ bedeutet, sowie dem lateinischen Suffix „-ella“, was eine Verkleinerungsform darstellt, zusammen.
Das Epithetonporrigens bedeutet „sich ausstreckend“.
Anderssprachige Trivialnamen
Als Kosmopolit besitzt der Ohrförmige Weißseitling zahlreiche Trivialnamen in unterschiedlichen Sprachen. Im Englischen ist der Pilz beispielsweise unter dem Namen „Angel´s Wing“ bekannt, bezugnehmend auf seine engelsflügelartige Form. Im Französischen heißt er „Pleurote étalé“ („Ausgebreiteter Seitling“). Im Dänischen wird er „Kridthat“ („Kreidehut“) genannt, im Schwedischen „Öronmussling“ („Ohrmuscheling“), im Tschechischen „Hlíva ušatá“ („austernohrig“) und im Finnischen „Korvavinokas“ („schräg wachsendes Ohr“). Der japanische Name des Pilzes ist „Sugihiratake“, in Bezug auf sein Substrat Japanische Zeder („Sugi“) und das japanische Wort für Pilz („take“).
Taxonomie und Systematik
Die Art wurde 1796 von Christian Hendrik Persoon als Agaricus porrigens erstbeschrieben. Nachdem das Taxon mehrfach umkombiniert wurde, darunter in die Gattungen Pleurotus und Phyllotus, wurde es 1947 von Rolf Singer in die Gattung Pleurocybella gestellt.
Die taxonomische Einordnung der Art ist unklar. Sie wurde bereits als Teil der Ritterlingsverwandten (Tricholomataceae), Schwindlingsverwandten (Marasmiaceae) und Borstenkorallenverwandten (Pterulaceae) interpretiert. Phylogenetische Untersuchungen ergaben eine recht wahrscheinliche Verwandtschaft (euMP, 61 %) mit dem Weißen Hängeröhrchen (Henningsomyces candidus) und dem Orangeseitling (Phyllotopsis nidulans). Uneinigkeit besteht außerdem darüber, ob die Gattung weitere Arten aus Südamerika enthält oder ob diese in andere Gattungen gestellt werden müssen.
Möglicherweise werden mehrere Arten unter dem Namen Pleurocybella porrigens zusammengefasst. In Japan konnten aus verschiedenen Aufsammlungen zwei genetisch unterschiedliche Populationen nachgewiesen werden, die nicht anhand des Substrats oder der geografischen Herkunft unterschieden werden konnten.
↑ abcdefAndreas Gminder, German J. Krieglsteiner: Die Großpilze Baden-Württembergs. Hrsg.: German J. Krieglsteiner. Band3. Eugen Ulmer, Stuttgart 2001, ISBN 3-8001-3536-1.
↑Hans E. Laux: Der Große Kosmos Pilzführer. Alle Speisepilze mit ihren giftigen Doppelgängern. In: Kosmos Naturführer. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-440-08457-4.
↑Toshiyuki Wakimoto, Tomohiro Asakawa, Saeko Akahoshi, Tomohiro Suzuki, Kaoru Nagai: Proof of the Existence of an Unstable Amino Acid: Pleurocybellaziridine in Pleurocybella porrigens. In: Angewandte Chemie. Band123, Nr.5, 2011, ISSN1521-3757, S.1200–1202, doi:10.1002/ange.201004646 (wiley.com [abgerufen am 25. September 2021]).
↑Fachausschuss Pilzverwertung und Toxikologie: Pilzvergiftungen. Deutsche Gesellschaft für Mykologie e. V., 20. Juni 2019, abgerufen am 25. September 2021.