Moritz Frei wurde 1978 in Frankfurt am Main geboren. Aufgewachsen ebenda sowie in Hannover, Syracuse und Berlin, absolvierte er von 2000 bis 2003 eine Ausbildung zum Fotografen in Berlin. Von 2004 bis 2010 folgte ein Studium der Bildenden Kunst an der HGB – Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Peter Piller. 2010/11 leitete er den Kunstraum Benjamin Richard in Leipzig (mit Erik Weiser). 2016 gründete Frei den Verlag „berlinartbooks“.[1] 2019 sorgte sein Rückzug aus der 26. Leipziger Jahresausstellung wegen der Teilnahme des Leipziger Malers Axel Krause[2] für bundesweites mediales Aufsehen und eine kontroverse Debatte.[3][4][5][6] Moritz Frei lebt und arbeitet in Berlin.
Werk
Moritz Frei arbeitet in vielen künstlerischen Medien: Fotografie, Video, Text, Installation, Performance, Sound und Malerei. Er verwendet Fundstücke, Gebrauchsgegenstände, Spielzeug, Lebensmittel und arbeitet ortsspezifisch, teilweise partizipativ sowie performativ. Die Fokussierung auf Details, das Aufgreifen bzw. Zulassen von Zufallsereignissen als Ausgangspunkt für Werkprozesse und Recherchen sowie ein humorvoller, nicht selten kritischer Blick auf Alltägliches kennzeichnen Freis Schaffen. Dieses trägt konzeptionelle Grundzüge, regt zu vielschichtigen Assoziationen an und thematisiert im gezielten Konterkarieren konventionell-tradierte Gattungsbegriffe und Denkmodelle.
I don’t believe in dinosaurs (2017/2021): Die großformatige Leuchtschrift aus Neonröhren wurde Mitte März 2021 auf dem Dach der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle installiert.[7][8] Die Textzeile geht auf den Satz eines Kindes zurück, das im Museum für Naturkunde in Berlin angesichts der ausgestellten Skelette Zweifel formulierte: „Ich glaube nicht an Dinosaurier.“ Die auf den ersten Blick einfache und vor allem humorvoll erscheinende Aussage verweist unterschwellig auf größere Fragen: nach Wissenschaft und Wissen, Wahrnehmung und Glauben, Information und individuellem Weltbild, Perspektive und Haltung, Meinungsbildung und Misstrauen sowie Kommunikation. Weitere Fassungen zeigte Frei 2016 in der „Galerie Åplus“ in Berlin, 2018 bei „Bruch & Dallas“ in Köln[9], 2020 im Kunstraum Ortloff in Leipzig und seit 2024 auf dem Dach des Museum Wiesbaden.
Die Corona Chronik/The Corona Chronicle (2020): Die YouTube-Serie startete am 16. März 2020 während des in Deutschland verhängten bundesweiten ersten Lockdowns in Folge der COVID-19-Pandemie. Zusammen mit der Schauspielerin Anne Hoffmann[10] realisierte Frei insgesamt 25 Folgen.[11] Als Paar im Südseeurlaub vor heimischer Fototapete parodierten sie die aktuelle Lage angesichts der umfangreichen Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens. Im „Dialog“ der vermeintlich gestrandeten Touristen mit den „Lieben daheim“ werden diverse Themen berührt: von (Mit-)Menschlichkeit, Unsicherheiten angesichts der seinerzeit aktuellen Pandemieentwicklung, persönlicher Freiheit, Lebensstandard, der Situation von Kunstschaffenden bis hin zu globalen Gefällelagen.[12]
Meine erste Tasse Kaffee (2018): Die Videoarbeit entstand anlässlich der Ausstellung Die Kaffeemaschine des Direktors/The Directors Coffee Machine im Museum Wiesbaden 2018[13][14][15]: Der Künstler hatte zuvor noch nie Kaffee getrunken und dokumentiert die Annäherung an dieses Ereignis: Er trifft den Schauspieler Bruno Ganz. Ganz spielte 1987 im Film Der Himmel über Berlin von Wim Wenders den Engel Damiel, der die himmlische Sphäre verlässt und auf die Erde kommt. Dort trinkt er an einem Berliner Schnellimbiss im Stehen einen ersten Kaffee aus dem Plastikbecher – Symbol seiner Menschwerdung. Das Video Meine erste Tasse Kaffee ist in seinen persönlichen Noten ein bemerkenswertes Filmdokument des inzwischen verstorbenen Schauspielers. Das Gespräch zwischen Ganz und dem Künstler kreist um individuellen Geschmack und Genuss, den Filmdreh Anfang der 1980er-Jahre, die Erfahrung von „ersten Malen“ sowie Menschlichkeit im Allgemeinen.[16] Auf erweiterter Ebene schwingt ebenso eine Kritik an Produktions- und Handelsbedingungen von Lebensmitteln sowie ihrer Fetischisierung mit.
Cosmic Latte (2016): Das Projekt realisierte Moritz Frei auf Einladung der „Galerie im Turm“ in Berlin. Über eine Kleinanzeige in einem Friedrichshainer Kiezblatt suchte Frei Senioren im nachbarschaftlichen Umfeld der Galerie am Frankfurter Tor, einem Bauensemble der Karl-Marx-Allee. Die Personen über 65 Jahre waren von Moritz Frei eingeladen, gegen Bezahlung nach seinen Anweisungen beigefarbene Gemälde zu erstellen. Diese wurden anschließend in einer Ausstellung (Kuratorin Melina Gerstmann) mit weiteren Arbeiten des Künstlers präsentiert. Ein Video dokumentiert das Projekt und seine Protagonisten, ihr Kunstverständnis sowie ihre Geschichten über das Leben im Kiez früher und heute.[17] Die Gespräche mit den Teilnehmenden, Beobachtungen im Umfeld beigefarben gekachelter „Stalinbauten“ und persönliche Reflexionen berühren Themen wie Generation, Nachbarschaft, Teilhabe, Biografisches, Kunstproduktion bis hin zur Frage nach der durchschnittlichen Farbe des Universums. Sie ist beige und trägt den Namen „Cosmic latte“.[18] In einem Interview mit Anna-Lena Werner erläutert Frei sein Projekt.[19]
Weitere Arbeiten (Auswahl)
Divide et impera (2011/2013): Als Performance vor Ort sortierte Moritz Frei über die Dauer von vier bis fünf Stunden handelsübliches und industriell hergestelltes Früchtemüsli in seine Bestandteile auseinander. Anschließend wurden diese von ihm sortenrein und in geometrischen Formen auf einer Tischplatte arrangiert. Die Arbeit wurde in drei Ausstellungen präsentiert (2013 Tireless Workers, Insitu, Berlin / 2011 Raum der Gegenwart, Kunstverein Leipzig, Leipzig / 2011 Artist’s own kitchen). Der Titel Divide et impera (Teile und herrsche) verweist auf eine lateinische Redewendung, die die Separierung verschiedener Interessengruppen zu strategischen Zwecken beschreibt.
Antitussivum (2017/2019): Die Soundcollage (8:44 Min.) enthält spontanes Publikumshusten im Saal während musikalischer Ruhemomente in sechs Konzerten der Berliner Philharmoniker. Die Arbeit wurde 2019 im Rahmen von TONLAGEN #stimme – Dresdener Tage der zeitgenössischen Musik[20] in Hellerau Dresden, sowie 2017 im Rahmen der Ausstellung No!Music[21] im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, präsentiert.
52% Abstraktion/52% Abstraction (2012): Das Objekt mit Soundspur (10:46 Min.) zeigt ein schlicht gerahmtes Urinalsieb (45 × 45 × 5 cm). Der dazugehörige Soundloop versammelt Stimmen von Künstlerinnen und ihre Vermutungen, worum es sich bei diesem Objekt handelt. Die Bandbreite der Äußerungen zeigt zum einen, dass der banale Gegenstand aus dem explizit männlichen Hygienekontext bei den weiblichen Interviewten nahezu unbekannt ist. Zum anderen spiegeln die mitunter fantasievollen Beschreibungen mit Augenzwinkern den zeitgenössischen Kunstbetrieb, während das Werk selbst auf ikonische Werke der Kunstgeschichte wie Marcel DuchampsFountain von 1917 verweist. Ein Exemplar der auf fünf limitierten Edition befindet sich als permanente Installation im Museum Wiesbaden.[22]
Künstlerbücher
The Smile of Buster Keaton: Der US-amerikanische Schauspieler Buster Keaton (1895–1966) ist einer der berühmtesten Komiker der Stummfilmära. Auf Fotos zeigte er jedoch stets einen ernsten Gesichtsausdruck (Spitzname „The Great Stone Face“[23]). Moritz Freis Publikation ist eine Sammlung von Porträts und Filmstills, auf denen der Komiker breit grinst. Dafür hat Frei Aufnahmen von Keaton mit dem Foto- und Videobearbeitungsprogramm „FaceApp“ verändert. Die entstandenen Bilder irritieren in ihrer erkennbaren Diskrepanz zwischen sichtbar künstlichem Lächeln und übriger Mimik und Gestik Keatons. Die kleine Publikation in Schwarz-Weiß wirft in analoger Form unter anderem Fragen nach digitalen Realitäten, Manipulation von Darstellungen, Menschen- wie Rollenbildern und sozialen Konventionen auf.
Kunstwerke des Tages: Über nahezu anderthalb Jahre nahm Moritz Frei täglich jeweils ein Foto auf: das Kunstwerk des Tages. Daraus entstand ein Bilderkonvolut der unspektakulären Dinge und teils witziger Stillleben aus der Sphäre des Alltäglichen. Viele der Motive wurden zum Ausgangspunkt neuer künstlerischer Arbeiten, etwa Divide et impera, Clownkotze, Schatten der Entschleunigung, Welt am Draht und weiterer. Das Buch zeigt eine Auswahl von 111 Kunstwerken des Tages und wurde 2018 mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber ausgezeichnet.[24]
Tausche Ölbild für gebrauchtes Auto (nicht älter als 5 Jahre): Für dieses Büchlein, bisher in zwei Auflagen erschienen, sammelte Moritz Frei Kleinanzeigen von Kunstschaffenden ab 1985. Es offenbart sich ein facettenreiches Panorama der Kreativität und sozialen Interaktion; zugleich dokumentieren sich prekären Hintergründe und zeithistorischen Wandel. Gestaltung: e o t. essays on typography: Lilla Hinrichs, Anna Sartorius.[25][26]
Weitere Publikationen (Auswahl)
Die süße Melancholie versammelt 24 Postkarten aus dem Reisefoto-Archiv Die süße Melancholie (2014–2019). Selbstporträts zeigt Aufnahmen aus öffentlichen analogen Fotoautomaten. Cosmic Latte erschien 2016 zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie im Turm, Berlin.
Einzelausstellungen (Auswahl)
2024 Wie groß ist das Feuer, Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken
2023 New World Order, Pavillon an der Volksbühne, Berlin
2020 Was war morgen?, Kunstraum Ortloff, Leipzig[27]
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit
Hamburger Kunsthalle
Mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Museum Wiesbaden
OstLicht. Galerie für Fotografie, Wien
Sammlung Staeck
Weserburg – Museum für Moderne Kunst, Bremen
Literatur
Moritz Frei, Ausstellungskatalog, hrsg. vom Museum Wiesbaden, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-89258-117-8
„eine/r aus siebzehn“. Friedrich Vordemberge-Gildewart Stipendium 2012, Ausstellungskatalog, hrsg. vom Museum Wiesbaden, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-89258-094-2