Mevlüde Genç verließ 1973 mit 30 Jahren ihren Herkunftsort Mercimek in der türkischen Provinz Amasya.[1][2][3] Ihr Mann Durmuş Genç kam 1970 nach Deutschland, war dort Akkordarbeiter und lebte in einem Wohnheim. Drei Jahre später folgte ihm Mevlüde Genç, vier ihrer Kinder blieben zunächst in der Türkei, in Solingen bekamen sie drei weitere Kinder.[4]
In der Nacht zum 29. Mai 1993 wurden zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen von Genç durch einen Brandanschlag auf das Haus der Familie in Solingen von Neonazis ermordet. 17 weiteren Menschen wurden zum Teil bleibende Verletzungen zugefügt; darunter Gençs 15-jähriger Sohn, der schwer verletzt und traumatisiert überlebte, nachdem 36 Prozent seiner Haut verbrannt und seine Knochen, durch einen panischen Sprung aus dem Fenster, um den Flammen zu entgehen, gebrochen waren.[5] Der Brand im Haus an der Unteren Wernerstraße 81 war laut Polizeibericht um 1:38 Uhr ausgebrochen. Mevlüde Genç, damals 50-jährig, konnte sich, nachdem sie erfolglos versucht hatte, das Feuer mit Wassereimern zu bekämpfen, durch einen Sprung aus einem Fenster des brennenden Hauses retten. Die Hilferufe ihrer noch im Haus befindlichen Verwandten hörend alarmierte sie unverzüglich einen Nachbarn. Fünf Minuten später traf die Feuerwehr ein.[6]
Im anschließenden Gerichtsprozess, der 127 Verhandlungstage dauerte und vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf verhandelt wurde, sagte Mevlüde Genç, das Oberhaupt der Familie, am 41. Prozesstag als Zeugin aus:
„Obwohl ich fünf Kinder und mein Zuhause verloren habe, bezeuge ich trotzdem Zuneigung. Wir sind alle Brüder. Das lässt sich auch durch Verbrennen und Kaputtmachen nicht verhindern.“[5]
„Ich lebe in Deutschland, also will ich Deutsche sein“, begründete Genç ihren Schritt, nach der rechtsextremistisch motivierten Tat 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.[7]
Mevlüde Genç starb am 30. Oktober 2022[8] im Alter von 79 Jahren. Sie ist in Mercimek u. a. neben ihren in Solingen ermordeten Verwandten begraben.[9]
Zu den vielen Würdigern von Gençs Lebensleistung zählen der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der zu ihren Ehren eine Rede hielt, in der er sie als „Symbol für den Kampf gegen antitürkischen und antimuslimischen Hass in Europa“ bezeichnete, und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der sie ein „großes Vorbild der Versöhnung“ nannte. Cem Özdemir zeigte sich auf Twitter „tieftraurig“ über den Tod seines „große[n] Vorbild[s]“ und der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach betonte, die Stadt Solingen werde ihr Vermächtnis bewahren.[10][11]
Ehrungen und Auszeichnungen
In den Jahren nach dem rechtsextremen Mordanschlag auf ihre Familie rief sie immer wieder zur Versöhnung auf und erhielt für ihr zivilgesellschaftliches Engagement zahlreiche Auszeichnungen.
Im Rahmen der Deutsch-Türkischen Kulturwochen der Friedrich-Ebert-Stiftung wurde sie 2003 mit dem Freundschaftspreis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es:
„… trotz allem die Treue gehalten und kämpft seither gegen Rassismus. Sie gründete u. a. einen Kindergarten und unterstützt vor allem das Bewusstsein, das bereits bei kleinen Kindern von Anfang an geschult werden sollte – nämlich dass Rassismus in Deutschland keine Chance haben darf. Für dieses Engagement und den Mut, trotz allem weiterzumachen, aufzustehen und etwas zu tun, verleiht die DTF seinen diesjährigen Preis in der Kategorie ‚Solidarität‘ an Mevlüde Genç.“[13]
Am 28. Mai 2023 wurde ein Platz in der Nähe des Rathauses von Solingen nach ihr benannt. Der Platz trug bisher den Namen Mercimek-Platz, benannt nach dem Herkunftsdorf der Familie.[17]
2024 wurde Mevlüde Genç im Rahmen des Projekts Frauenorte in die Liste der FrauenOrte NRW aufgenommen und die Errichtung einer Gedenktafel ist geplant.[18]
Mevlüde-Genç-Medaille
Die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat am 18. Dezember 2018 für besondere Verdienste um Toleranz, Versöhnung zwischen den Kulturen und um das friedliche Miteinander der Religionen die Mevlüde-Genç-Medaille gestiftet. Die Auszeichnung wird jährlich rund um den Jahrestag des Brandanschlags durch den Ministerpräsidenten an Einzelpersonen oder Gruppen verliehen und ist mit 10.000 Euro dotiert. Der Preis und damit das Preisgeld können geteilt werden. Neben der Medaille in einer Schatulle und dem Preisgeld erhalten die Preisträger eine Urkunde.[19][20] Die bisherigen Preisträger sind:
2019: Duisburger Jugendhilfeträger „Jungs e. V.“[21]
2020: Mimoun Berrissoun, Leiter der Initiative „180 Grad Wende“[22]
2021: Erika Theißen, Gründerin des „Begegnungs- und Fortbildungszentrums muslimischer Frauen e. V.“[23]
Gençs Medienpräsenz führte zu Neid und Missgunst in Teilen der Solinger Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurden unter anderem Gerüchte gestreut, der Brandanschlag von Solingen habe die Familie, deren Wohnort heute geheim gehalten werden muss, reich gemacht, bis hin zum Verdacht, die Überlebenden könnten das Feuer selbst gelegt haben.[27][28][29]
In Bezug auf die Ermittlungen um die rechtsextreme Mordserie des NSU an Migranten bekundete Genç ihr Vertrauen gegenüber dem deutschen Staat.[30]
In Oldenburg wurde der Mevlüde-Genç-Weg als Ergebnis eines Kooperationsprojektes des Fördervereins internationales Fluchtmuseum e. V., der AG „Schule ohne Rassismus-Schule mit Courage“ der IGS Kreyenbrück (beide Oldenburg) und der Stadt Oldenburg eingeweiht. Ein Schaukasten gibt nähere Auskünfte zum Anschlag in Solingen.[31]
Nach ihrem Tod gründete die Familie Genç den gleichnamigen Verein Mevlüde Genç e. V. mit dem Ziel, die Botschaften der Versöhnung, des Zusammenhalts und des friedlichen Zusammenlebens, für die die Friedensbotschafterin zeitlebens stand, weiter in die Welt zu tragen.[32]
Literatur
Birgül Demirtas, Adelheid Schmitz, Derya Gür-Seker und Çagri Kahveci (Hrsg.): Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag – Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung (= Edition Politik. Band142). transcript, 2023, ISBN 978-3-8394-6497-7, doi:10.1515/9783839464977.
Manuel Gogos: Das Trauma von Solingen. In: Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n). transcript Verlag 2021, ISBN 978-3-8394-5423-7.
↑Mevlüde Genç. In: 50 Yil 50 İnsan 50 Jahre 50 Menschen. Präsidium für Auslandstürken und verwandte Völker (YTB), Kemal Yurtnaç im Namen des YTB, Juni 2012, S. 141–143, abgerufen am 3. Februar 2021 (deutsch, türkisch).
↑ Manuel Gogos: Das Trauma von Solingen. In: Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n). S. 73