Das Landesgericht für Strafsachen Wien (in den Medien oft auch Straflandesgericht, umgangssprachlich auch als Landl bezeichnet) ist eines von 20 Landesgerichten in Österreich und gleichzeitig das größte ordentliche Gericht Österreichs.[1] Es befindet sich im 8. Wiener Gemeindebezirk, Josefstadt, in der Landesgerichtsstraße 11 / Wickenburggasse 22 (Zugang zu den Verhandlungssälen).[2] Es ist sowohl ein Gericht erster als auch zweiter Instanz. Ein Gefangenenhaus, die Justizanstalt Wien-Josefstadt, ist angeschlossen. Der gesamte Gebäudekomplex wird im Volksmund auch als „Graues Haus“ bezeichnet.[3]
Das Landesgericht für Strafsachen ist in erster Instanz für Verbrechen und Vergehen zuständig, die nicht vor das Bezirksgericht gehören. Je nach Schwere des Verbrechens kommt es zu einer anderen Verfahrensart. Entweder entscheidet
In zweiter Instanz verhandelt das Landesgericht Berufungen und Beschwerden gegen Urteile der Bezirksgerichte. Ein Drei-Richter-Senat entscheidet hier, ob das Urteil aufgehoben wird oder nicht und setzt gegebenenfalls eine neue Strafe fest.
Dem derzeitigen Präsidenten Friedrich Forsthuber stehen zwei Vizepräsidentinnen – Henriette Braitenberg-Zennenberg und Christina Salzborn – zur Seite.
Im September 2012 wurden folgende Daten publiziert:[1][4]
größtes Gericht Österreichs
270 Amtstage pro Jahr
täglich 1500 Personen
70 Richter, 130 Mitarbeiter in den Kanzleien
5306 Verfahren (2011) bei den Haft- und Rechtsschutzrichtern, das sind ca. 40 % des gesamtösterreichischen Anfalls
7459 Verfahren bei Hauptverhandlungsrichtern (30 % des gesamtösterreichischen Anfalls)
Staatsanwaltschaft mit 93 Staatsanwälten und 250 Mitarbeitern
19.000 Verfahren gegen 37.000 Täter (2011)
Justizanstalt Wien-Josefstadt mit 1200 Insassen (überbelegt)
Geschichte
Bis 1839
Das ursprüngliche Gebäude des Wiener Stadtgerichtshaus, die sogenannte Bürgerschranne, befand sich von 1440 bis 1839 am Hohen Markt 5. Im Jahr 1773 wurde die Schranne unter Kaiser Joseph II. vergrößert und das Stadt- und Landesgericht des Wiener Magistrats in diesem Haus vereinigt. Ab diesem Zeitpunkt trug es die Bezeichnung „Kriminalgericht“.[5]
Wegen Unzulänglichkeiten der Gefängnisräume im alten Gericht am Hohen Markt war schon Anfang des 19. Jahrhunderts die Rede davon, ein neues Kriminalgerichtsgebäudes zu errichten, allerdings musste man dieses Vorhaben auf Grund des Staatsbankrotts im Jahr 1811 aufschieben.
Erst 1816 wurde der Neubau des Kriminalgerichtsgebäudes beschlossen. Obwohl man sich zuerst gegen eine Errichtung außerhalb der Stadt aussprach, wurde als Baugrund das Gebiet der bürgerlichen Schießstätte und des früheren St.-Stephanus-Freithofes in der damaligen Alservorstadt, heute in diesem Teil Josefstadt, gewählt.[6] Die Pläne von Architekt Johann Fischer wurden 1831 genehmigt, und 1832 begann man mit dem Bau, der 1839 fertiggestellt wurde. Am 14. Mai 1839 fand die erste Ratssitzung statt.
1839–1918
Johann Fischer griff in seinen Plänen auf toskanische Palastbauten der Frührenaissance zurück wie den Palazzo Pitti oder den Palazzo Pandolfini in Florenz. Das Gebäude wurde auf einem 21.872 m² großen Baugrund mit einer Länge von 223 Meter errichtet. Es hatte drei bzw. zwei Stockwerke (Obergeschoße); der Hof wurde in drei Trakte unterteilt, in denen sich das Gefangenenhaus befand. Weiters wurden eine besondere Abteilung für das Gefängniskrankenhaus (Inquisitenspital) sowie eine Kapelle errichtet.
Das Kriminalgericht Wien war von 1839 bis 1850 ein städtisches Gericht, weshalb der Vizebürgermeister von Wien gleichzeitig Präsident der Kriminalgerichte für Zivil- und Strafsachen war.[7] 1850 erfolgte die Aufhebung der Kommunalgerichtsbarkeit; die Staatsverwaltung übernahm das Kriminalgericht am 1. Juli 1850. Von nun an führte es den Titel „k.k. Landesgericht in Strafsachen in Wien“.[8]
1851 wurden Geschworenengerichte eingeführt. Diese tagten im großen Sitzungssaal, der sich damals wie heute im zweiten Stock des Amtstraktes befand. Der Saal wies die doppelte Raumhöhe (zwei Stockwerke) auf.[9] 1890/1891 erfolgte eine horizontale Unterteilung. Anfangs stand das Gebäude gemeinsam mit dem Nachbarhaus Florianigasse 2/Landesgerichtsstraße 9 allein auf weiter Flur. Erst mit der 1858 im Zuge der Demolierung der Stadtmauer begonnenen Stadterweiterung wurde es von anderen Bauwerken umgeben.
Von 1870 bis 1878 erfuhr das Gericht zahlreiche Umbauten. Besonders widmete man sich dem Trakt, der direkt an die Alser Straße anschließt. Auf bisherigem Baugrund wurde ein dreistöckiger Arresttrakt sowie der Schwurgerichtstrakt gebaut. Neu hinzu kam der „Neutrakt“, der eine wirkliche Erweiterung darstellte und drei- bzw. vierstöckig errichtet wurde.[10] Ab 1873 wurden Hinrichtungen nicht mehr öffentlich, sondern nur mehr im Gefangenenhaus vollstreckt. Die erste Hinrichtung fand am 16. Dezember 1876 im „Galgenhof“ statt; die Beschuldigten wurden dort am Würgegalgen erhängt.[11] Zwischen 1876 und 1919 wurden dort 13 Menschen hingerichtet.[12]
Um 1900 wurde das Gefangenenhaus erweitert. Im Hof II des Gefangenenhauses wurden Küchen-, Wäscherei- und Werkstättengebäude sowie eine Badeanlage für die Gefangenen geschaffen. 1906 / 1907 wurde der Amtstrakt vergrößert. Der zweistöckige Flügeltrakt bekam ein drittes und der dreistöckige Mitteltrakt ein viertes Stockwerk aufgesetzt.[13]
1918–1938
In den ersten Jahren der Ersten Republik fanden Änderungen der Gerichtsorganisation statt. Infolge der schlechten Wirtschaftslage und der rasanten Inflation stiegen die Zahl der Fälle und die Anzahl der Inhaftierten stark an. Deshalb wurde in Wien per 1. Oktober 1920 ein zweites Landesgericht errichtet, das Landesgericht für Strafsachen Wien II,[14] sowie eine Expositur des Gefangenenhauses in der Garnisongasse.[15]
Eine der wichtigsten Gerichtsverhandlungen der Zwischenkriegszeit war der Schattendorf-Prozess, bei dem am 14. Juli 1927 die drei Angeklagten freigesprochen wurden. Im Jänner 1927 hatten Frontkämpfer in eine Versammlung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs geschossen und dabei zwei Menschen getötet. Die Empörung über den Freispruch war groß. Bei einer Massendemonstration vor dem Justizpalast am 15. Juli 1927, die zunächst überwiegend friedlich ablief, kam es zum Justizpalastbrand, worauf die Polizei auch friedliche, vom Schauplatz flüchtende Demonstranten verfolgte und zahlreiche unter ihnen erschoss.[16]
Die ersten Maßnahmen, die die Nationalsozialisten am Landesgericht für Strafsachen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 vornehmen ließen, bestanden aus der Errichtung eines Ehrenmals für zehn hingerichtete Nationalsozialisten im Zuge der Prozesse über die Ereignisse im Juli 1934 und aus der Schaffung eines Hinrichtungsraumes (damaliger Raum 47 C, heute Weiheraum, wo 650 Namen von Widerstandskämpfern ausgewiesen werden) mit einer aus Berlin gelieferten Guillotine (damals Gerät F., F wie Fallbeil, genannt).
Im Zeitraum vom 6. Dezember 1938 bis zum 4. April 1945 wurden im Landgericht Wien 1.184 Personen exekutiert. Hiervon waren 537 politische Todesurteile gegen Zivilisten, 67 Köpfungen (davon 7 Hängungen) von Militärs,[19] 49 kriegsbedingte Vergehen, 31 kriminelle Fälle. Unter den Hingerichteten befanden sich 93 Frauen in allen Altersklassen, darunter ein 16-jähriges Mädchen und eine 72-jährige Frau, die beide aus politischen Gründen hingerichtet worden waren.[20]
Am 30. Juni 1942 wurden zehn Eisenbahner aus der Steiermark und aus Kärnten geköpft, die im Widerstand tätig waren.[21][1] Am 31. Juli 1943 wurden innerhalb einer Stunde 31 Menschen enthauptet, einen Tag später 30. Die Leichen wurden danach dem anatomischen Institut der Universität Wien übergeben und verbleibende Leichenteile später ohne Aufsehen auf dem Wiener Zentralfriedhof in Schachtgräbern beerdigt.[22] Zu den in der NS-Zeit Hingerichteten, die als „Justifizierte“ bezeichnet wurden, gehörten auch die Klosterschwester Maria Restituta Kafka, der Theologiestudent Hanns Georg Heintschel-Heinegg und der Wiener Kaplan Heinrich Maier.
Der Scharfrichter Ulicky montierte am 5. April 1945 das Fallbeil ab und flüchtete vor den anrückenden Alliierten in Richtung Westen.[24] Danach verliert sich die Spur des Henkers genauso wie die des Fallbeils.[25] „Österreich hat von einer Verfolgung der drei Scharfrichter abgesehen“, schreibt Neues Österreich in seiner Ausgabe vom 3. Jänner 1948.
Seit 1945
1945 wurde ein Landesgericht für Strafsachen per Verordnung[26] wiederhergestellt.
Der A-Trakt (Inquisitentrakt), der während eines Bombenangriffes 1944 zerstört worden war, wurde in der Zweiten Republik wieder aufgebaut.[27] Das war auch notwendig, weil das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 und das Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 1945 zu einer bis dahin beispiellosen Überfüllung von Gerichtshöfen und Gefängnissen führten.
Nach 1945 wurden im Landesgericht für Strafsachen noch 31 Todesurteile vollstreckt.[12] Die letzte Hinrichtung im Grauen Haus fand am 24. März 1950 statt. Hingerichtet wurde Johann Trnka, der zwei Frauen in ihrer Wohnung überfallen und brutal ermordet hatte. Am 1. Juli 1950 wurde die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren vom Parlament abgeschafft. Insgesamt kam es im Landesgericht für Strafsachen zu 1248 Hinrichtungen.[23] 1967 wurde die Hinrichtungsstätte in eine Gedenkstätte umgestaltet.
Anfang der 1980er Jahre wurde der Gebäudekomplex revitalisiert und vergrößert. Das Gebäude in der Florianigasse 8, das schon vorher renoviert worden war, diente in dieser Zeit als Notunterkunft für einen Teil der Abteilungen.[13] 1994 wurde der letzte Umbau, eigentlich der Zubau des Verhandlungssaaltraktes, abgeschlossen. 2003 wurde der Jugendgerichtshof Wien als selbstständiges Gericht aufgelöst; seine Agenden wurden in das Landesgericht für Strafsachen einbezogen.[28]
Prominente Prozesse seit 1945 waren beispielsweise das Krauland-Verfahren, in dem ein ÖVP-Minister wegen Vermögensdelikten angeklagt war, die Affäre um den ehemaligen SPÖ-Innenminister und Gewerkschaftsbundpräsidenten Franz Olah, dessen eigenmächtige finanzielle Hilfe bei einer Zeitungsgründung zur Verurteilung führte, die Mordaffären Sassak und die der Lainzer Krankenschwestern, das Konsum-Verfahren, in dem es um die Verantwortung der Konsummanager für die Pleite des Unternehmens ging, das Lucona-Verfahren gegen Udo Proksch, einen in Politik und Gesellschaft bestens Vernetzten, der an einem versuchten Versicherungsbetrug beteiligt war, der mehrere Menschen das Leben kostete, der Prozess gegen den HolocaustleugnerDavid Irving wegen NS-Wiederbetätigung und die BAWAG-Affäre, in der es um Pflichtwidrigkeiten von Bankmanagern und verschwundenes Geld geht.
Ende Jänner 2015 wurden an der Außenfassade des Wiener Straflandesgerichtes zehn Zeittafeln angebracht, die an die wechselvolle Geschichte des „Grauen Hauses“ und die Strafgerichtsbarkeit von 1839 bis in die Gegenwart erinnern. Sie wurden von JustizministerWolfgang Brandstetter gemeinsam mit Friedrich Forsthuber und im Beisein von KulturministerJosef Ostermayer der Öffentlichkeit präsentiert. Die Tafeln erinnern auch an die Gräuel des NS-Regimes und die Abschaffung der Todesstrafe in Österreich.[29]
Im April 2015 wurde vor dem Landesgericht ein Mahnmal für rund 600 politischen Opfer der Justiz des nationalsozialistischen Regimes enthüllt. Die von der Künstlerin Eva Schlegel gestaltete Pyramide aus Stahl trägt den Schriftzug „369 Wochen“. Dieser wird als Lichtinstallation auf die Außenwand des Landesgerichts projiziert und steht symbolisch für die 369 Wochen der NS-Herrschaft in Wien.[30]
Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien seit 1839
Josef Hollan (1839–1844) Präsident der Kriminalgerichte für Zivil- und Strafsachen
Florian Philipp (1844–1849) Präsident der Kriminalgerichte für Zivil- und Strafsachen
Wilhelm Deutschmann (Red.): 200 Jahre Rechtsleben in Wien. Advokaten, Richter, Rechtsgelehrte. Museen der Stadt Wien, Wien 1985 (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 96).
Heinrich Geissler: Die Geschichte des „Grauen Hauses“. Als Einführung zu dem Katalog über die Sammlungen im Gefangenhaus-Museum des Landesgerichtes für Strafsachen. Verlag des Landesgerichtsgefangenenhauses, Wien 1933.
Heinz Geissler: Die Geschichte des „Grauen Hauses“. Kriminalgeschichte und Katalog zu den Sammlungen im Gefangenenhaus. Museum des Landesgerichtes für Strafsachen, Wien 1950.
Gerhard Roth: Das Graue Haus. In: Gerhard Roth: Die Archive des Schweigens. Band 7: Eine Reise in das Innere von Wien. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11407-1, S. 65–88.
↑Friedrich Forsthuber: Die Geschichte des „Grauen Hauses“ und der Strafgerichtsbarkeit in Wien. In: Thomas Olechowski (Hrsg.): Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs. Band 2 / 2016. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2016, ISBN 978-3-7001-8059-3, S. 409–418, Kapitel online auf austriaca.at (PDF; 208 kB).
↑ Friedrich Forsthuber: Landesgericht für Strafsachen Wien. In: Friedrich Forsthuber, Ursula Schwarz, Johannes Mahl-Anzinger, Mattias Keuschnigg: Die Geschichte des Grauen Hauses und der österreichischen Strafgerichtsbarkeit, Hrsg.: Bibliotheksverein im Landesgericht für Strafsachen Wien, 1. Aufl. (1000 Stück), Wien 2012, S. 157.
↑Der Name ist vielfach verkehrt wiedergegeben (Witzka bzw. Ulitzka). Rolf Hochhuth, Tell gegen Hitler. Historische Studien, Frankfurt am Main 1992, S. 140, schreibt vom „Wiener Scharfrichter Fritz Ulitzka, der auch die sehr vielen Todesurteile in Graz vollstreckte“, und übernimmt die Schreibweise aus der kulturpolitischen Monatsschrift Aufbau, 1949 (S. 28): „(…) Neben ihnen [Reichhart aus München, Reindel aus Magdeburg und Röttger aus Berlin] fungierten später noch die Scharfrichter Köster, Ulitzka, Weiss, Hehr und Roselieb.“
↑Die Geschichte des Grauen Hauses und der österreichischen Strafgerichtsbarkeit, Bibliotheksverein im Landesgericht für Strafsachen Wien (Hg.), Wien 2012, S. 124.
↑Willi Weinert: „Mich könnt ihr löschen, aber nicht das Feuer“ – Biografien der im Wiener Landesgericht hingerichteten WiderstandskämpferInnen. Ein Führer durch die Gruppe 40 am Wiener Zentralfriedhof und zu Opfergräbern auf Wiens Friedhöfen, Wiener Stern-Verlag, Wien 2011, ISBN 978-3-9502478-2-4, S. 310.
↑Weinert, S. 38 ff., S. 310. Quellenbestände konnten 1.377 hingerichtete Opfer der NS-Justiz eruiert werden, deren Leichen dem Anatomischen Institut Wien zugewiesen wurden. (Andrea Hurton: Vom Pogrom in den Widerstand. Walter Felix Suess (1912–1943). Musiker – Arzt – Gestapo-Opfer. 2020.)
↑Günter Düriegl und Gerbert Frodl (Hrsg.): Das neue Österreich. Buch zur Ausstellung zum Staatsjubiläum 1955–2005. böhlau, 2005, S. 93. „Das Fallbeil im Flüchtlingsgepäck – Wie der Nazischarfrichter aus Wien entfloh“, Neues Österreich, 3. Jänner 1948 (online auf anno.onb.ac.at).