Kunstmärchen nutzen wie Volksmärchen Metaphern und greifen häufig auch Stil, Themen und Elemente von Volksmärchen auf, sind aber meist weder in ihrer Erzählform eindimensional, noch erschöpfen sie sich in stereotyper Abstraktion von Ort, Zeit und handelnden Personen, d. h., sie liefern oft zusätzlich detaillierte(re) Beschreibungen von Personen und Ereignissen. Anders als in Volksmärchen werden die Figuren zuweilen „gebrochen“ und deren Probleme psychologisiert, so dass sie auch „innere“ Wandlungen vollziehen. Anstelle eines Schwarz-Weiß-Schemas, wie z. B. das von "Gut und Böse" samt eindeutiger moralischer Positionierung, werden in Kunstmärchen auch moralische Grauzonen abgehandelt, und sie enden auch nicht immer glücklich (vgl. Hans Christian Andersen: Die kleine Meerjungfrau).
Kunstmärchen nutzen zudem nicht selten einen verschachtelten Aufbau (Märchen im Märchen) und sind oft umfangreicher sowie literarisch ambitionierter als Volksmärchen konzipiert. Wie schon die ursprünglichen Volksmärchen haben bzw. hatten auch die Kunstmärchen oft zuerst die Erwachsenen als Adressaten. Im Vorwort zu der märchenartigen Erzählung Der kleine Prinz wird hingegen von vorneherein hervorgehoben, dass sich das Buch sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richtet.
Einige Kunstmärchen wurden bereits vor Jahrhunderten auch als Märchendrama oder Märchenoper adaptiert oder dafür konzipiert. Neben mehr oder weniger umfangreichen Erzählungen sind auch Märchenromane vorgelegt worden, die jedoch meist auch Merkmale der Fantasy-Literatur aufweisen und von daher schwer davon abzugrenzen sind.
Die politisierten Dichter des Vormärz erfrischten die Gattung durch eine drastische Durchbrechung der Konvention des tröstlichen Endes oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Georg Büchners Antimärchen sind in seinen Dramen eingebunden. Am bekanntesten ist das Antimärchen aus Woyzeck, darin die Großmutter ihrer Enkelin das Märchen Sterntaler mit schrecklichem Ausgang erzählt.
Die scheinbare Ausblendung der äußeren Wirklichkeit im Kunstmärchen ermöglicht es, sozialkritische Inhalte zu transportieren, z. B. in Goethes Märchen (1795) die symbolisch vermittelte Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen im nachrevolutionären Frankreich und in Gerhart HauptmannsDas Märchen (1941) an nationalsozialistischer Rassenhygiene und sogenannter Euthanasie.
Etwa ab den 1980ern fanden auch die Alternativbewegungen ihren Niederschlag in Kunstmärchen, in denen es dann weniger um literarische Qualitäten als eben um das Einbringen „alternativer“ bzw. im Gegensatz zur „etablierten“ gesellschaftlichen Mehrheit stehender Inhalte ging. So gelang es dem Lucy Körner Verlag in Fellbach mit seinem Autor und Herausgeber Heinz Körner als erstem Verlag Bestsellererfolge mit Märchenerzählungen und Märchenanthologien (u. a. Die Farben der Wirklichkeit, 1983) zu erzielen, die unter dem Motto „Bücher für eine bessere Welt“ esoterisch-alternative Themen behandelten. Neben Kristiane Allert-Wybranietz war auch Roland Kübler einer der Mitherausgeber und Autoren des Lucy Körner Verlags, der unter gleichen Vorzeichen ab 1987 mit seinem Verlag Stendel in Waiblingen ähnlich erfolgreich eigene Märchenerzählungen und Anthologien herausgegeben hatte. Der Metta-Kinau Verlag in Hamburg setzte innerhalb dieses Spektrums bei der 1984 mit Das kleine Märchenbuch eröffneten Reihe von Märchenanthologien hingegen eher auf ökologisch-emanzipatorische Inhalte und eine besondere Gestaltung. So zeichnete sich deren Ausstattung durch eine aufwändige Hardcover-Bindung und Umweltschutzpapier sowie die Bebilderung der handschriftlichen Textbeiträge mit Grafiken von jeweils anderen Illustratoren aus. Autoren waren u. a. Robert Habeck, Ulrich Karger und Konrad Lorenz. Trotz hoher Auflagen seiner insgesamt sieben Märchenanthologien ging der Verlag jedoch Mitte der 1990er in Konkurs, während die beiden erstgenannten Verlage noch bestehen.
Für die Jahrtausendwende ist insbesondere Walter Moers zu nennen, der unter seinen sehr erfolgreichen und der Fantasy zuzurechnenden Zamonien-Romanen auch einen Band wie Ensel und Krete herausgebracht hat, der als Märchen-Parodie in der Tradition des Kunstmärchens steht.
Beispiele für Übergangsformen und Adaptionen
Die folgende chronologische Liste zeigt die vielfältigen Möglichkeiten der Erscheinung, Adaption und Erweiterung der Gattung der Kunstmärchens.
1782–86 Johann Karl August Musäus: Volksmährchen der Deutschen, Sammlung von Märchen bzw. Kunstmärchen, Legenden und Sagen in fünf Bänden
2008 Christian Peitz: Der Märchenprinz im Märchenwald hört einen Schuss, der gar nicht knallt. Moderne Märchen.
2010 Ulrich Karger: Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten. Moderne Märchen und Parabeln
Literatur
Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Carl Winter, Heidelberg 1987, ISBN 3-533-02748-1 (Reihe Siegen 13).
Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1987, ISBN 3-423-04467-5 (dtv 4467).