Tulla führte im 19. Jahrhundert die Rheinbegradigung durch. Seine Maßnahmen gaben dem Oberrhein ein völlig neues Aussehen: Der in einer natürlichen Auenlandschaftmäandernde Wasserverlauf wurde auf ein Flussbett von 200–250 m eingeengt, begradigt und vertieft, mit Dammanlagen umgeleitet und in der Form verstärkt. Dadurch sollten die Siedlungsflächen vor den häufigen Überflutungen geschützt und neue Siedlungsflächen gewonnen werden. Weiterhin wollte man die Schiffbarkeit verbessern und die grassierenden Krankheiten zurückdrängen (u. a. die Malaria, damals „Sumpffieber“ genannt). In der Folge bildeten sich neue Landstriche, z. B. die „deutschlandweit einzigartigen“ Trockenauen am östlichen Flussufer des Oberrheins, heute einige Naturschutzgebiete.
Tulla wurde 1770 als Sohn eines Pfarrers in Karlsruhe geboren und wuchs sechs Jahre in Remchingen auf.[2] Die Familie Tulla hatte holländische Vorfahren.[3] Tulla erhielt von 1792 bis 1794 bei Karl Christian von Langsdorf eine Ausbildung. 1795 begann er in Freiberg in Sachsen Chemie und Mineralogie zu studieren. Anschließend wurde er in Baden in den Staatsdienst übernommen. 1801 wurde er zur Fortbildung nach Paris geschickt, um seine Französisch-Kenntnisse zu verbessern und an der neu gegründeten École Polytechnique, der damals in Europa führenden naturwissenschaftlichen Hochschule, zu studieren. Dort erhielt er wesentliche Impulse für seine Arbeit: Ein Vorbild war für ihn das 1795 in Frankreich eingeführte Dezimalsystem, das dann auf seine Anregung hin – wenn auch mit einigen Modifikationen – in Baden übernommen wurde. Zurück in Baden wurde er 1803 zum Hauptmann ernannt. Ab 1807 arbeitete er in der Schweiz an der Regulierung der Linth mit. Im selben Jahr beteiligte er sich an der Gründung der Ingenieursschule, des Vorgängerinstituts der Universität Karlsruhe, heute: Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er wurde in den Folgejahren mehrfach befördert, so 1809 zum Major und 1814 zum Oberstleutnant. 1817 wurde er zum Leiter der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues ernannt. In dieser Funktion erstellte er die Pläne, nach denen in den Jahren 1817 bis 1842 die Dreisam in Freiburg begradigt wurde und so viele neue landwirtschaftliche Flächen nutzbar machte.[4] Seine größte Ingenieurleistung waren die Pläne zur Rheinbegradigung, die er seit 1809 vorstellte. Er hatte außerdem die politische Überzeugungskraft und die erforderlichen Sprachkenntnisse, die Anliegerstaaten von den Vorteilen zu überzeugen.
Tulla starb an den Folgen von chronischen Beschwerden durch Blasensteine. Er suchte dazu den französischen Spezialisten Dr. Jean Civiale in Paris auf, der eine mechanische Zerkleinerung von Blasensteinen entwickelt hatte. Die Operationen zogen sich über mehrere Wochen lang hin, bis eine plötzliche Schwächung seines Immunsystems zum Tode führte. Seit Mitte der 1820er Jahre litt Tulla auch an chronischen rheumatischen und arthritischen Beschwerden, die er sich während seines Wasserbaus durch Nässe, Wind und Kälte zugezogen hatte.[5] Er wurde auf dem Friedhof Montmartre in Paris beigesetzt und seine Grabstelle kaufte die badische Landesregierung „auf ewig“.[6] Sein Grabstein zeigt das „Altriper Eck“, einen der technisch schwierigsten Abschnitte der Rheinbegradigung nahe dem pfälzischen Dorf Altrip südlich von Mannheim. Er wird dort mit den französischen Vornamen Jean (für Johann) und Godefroy (für Gottfried) benannt. Tullas Grab liegt auf dem Friedhof an der avenue Berlioz in der Sektion 26, erste Gräberlinie, Grabnummer 45.[7]
Zahlreiche Städte und Gemeinden entlang des Rheins benannten Straßen nach ihm, mehrere Schulen und Hallen tragen den Namen Tulla. So sind in Bad Säckingen, Weil am Rhein, Lörrach, Freiburg, Karlsruhe und Heidelberg jeweils Straßen nach ihm benannt. Ebenso dem Rheingraben entlang tragen mehrere Schulen seinen Namen wie in Mannheim,[9] Karlsruhe,[10]Rastatt,[11] Kehl[12] und Freiburg.[13]
Ein Gedenkstein, das Tulladenkmal, steht am Rhein bei Karlsruhe zwischen dem Rheinhafen und Maxau. In Breisach wurde 1874 zu Ehren von Tulla auf dem Areal der einstigen Burg- und Schlossanlage auf der Nordseite des Münsterberges der Tullaturm errichtet; heute ist der Turm die Kulisse der Freilichtbühne Festspiele Breisach.[14]
Die Grundsätze, nach welchen die Rheinbauarbeiten künftig zu führen seyn möchten. 1. Denkschrift, 1812.
Die Grundsätze, nach welchen die Rheinbauarbeiten künftig zu führen seyn möchten. 2. Denkschrift, 1822, 88 S.; Digitalisat der Badischen Landesbibliothek (BLB).
Ueber die Rektifikation des Rheins, von seinem Austritt aus der Schweitz bis zu seinem Eintritt in das Großherzogthum Hessen. 3. Denkschrift, 1825, 60 S.; Digitalisat der BLB.
Literatur (Auswahl)
– chronologisch –
Philipp Jakob Scheffel[17]: Nekrolog auf Johann Gottfried Tulla. G. Braunsche Hofdruckerei, Karlsruhe 1830, Digitalisat der UB Freiburg.
Arthur Valdenaire: Das Leben und Wirken des Johann Gottfried Tulla. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (ZGORh), 81. Jg., 1929, S. 337–364, S. 588–616 und 83. Jg., 1931, S. 258–286.
Heinrich Cassinone, Karl Spieß: Johann Gottfried Tulla, der Begründer der Wasser- und Straßenbauverwaltung in Baden. C. F. Müller, Karlsruhe 1929.
Hans Georg Zier: Johann Gottfried Tulla. Ein Lebensbild. In: Badische Heimat, 50. Jg., 1970, Heft 4, S. 379–449, (PDF; 3,34 MB).
Karl Knäble: Tätigkeit und Werk Tullas. In: Badische Heimat, 50. Jg., 1970, Heft 4, S. 450–465, (PDF; 3,34 MB).
Emil Mosonyi (Hrsg.): Johann Gottfried Tulla. Ansprachen und Vorträge zur Gedenkfeier und Internationalen Fachtagung über Flussregulierungen aus Anlass des 200. Geburtstages. Theodor-Rehbock-Flusslaboratorium, Karlsruhe 1970, DNB730525074.
Eberhard Henze: Technik und Humanität. Johann Gottfried Tulla. Quadrate-Buchhandlung, Mannheim 1989, 38 S., ISBN 978-3-924704-16-2.
Clemens Kieser: „Kein Strom oder Fluss hat mehrere Arme nöthig“. Denkmale zum Gedenken an Johann Gottfried Tulla, den „Bändiger des wilden Rheins“. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 32. Jg., 2003, Heft 3, S. 231–234, Digitalisat der UB Heidelberg.
David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006, ISBN 978-3-421-05958-1; 2. Auflage: Pantheon, München 2008, ISBN 978-3-570-55063-2; zu Tulla: S. 105 ff.
Klaus Richter: Johann Gottfried Tulla (1770 – 1828) – Freiberger Bergstudent, „Bändiger des wilden Rheins“ und Mitbegründer der Universität Karlsruhe. In: Acamonta, 15. Jg., 2008, ISSN2193-309X, S. 112–113, Volltext online, (PDF; 4,66 MB); Literaturliste, (PDF; 13 kB).
Nicole Zerrath, Rainer Boos, Iris Baumgärtner: Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. (= Beiträge zur Stadtgeschichte, Band 4.) Hrsg. vom Stadtmuseum Rastatt. Broschüre zur Ausstellung vom 23. Juli 2015 bis 28. Februar 2016,[18] mit vielen Illustrationen, Volltext online.
Franz Littmann: Johann Gottfried Tulla und die Geschichte der Rheinkorrektion. J. S. Klotz Verlagshaus, Neulingen 2020, ISBN 978-3-948424-57-2.
„... und ich auch gerne etwas zur Belehrung anderer beytrage.“ Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla. Stadtmuseum Rastatt, 23. Juli 2015 – 28. Februar 2016.[18]
Filme
– chronologisch –
Der Rhein (2): Von Malaria und Jahrtausendfluten. Dokumentarfilm mit Spielszenen, Deutschland, 2016, 43:27 Min., Buch und Regie: Christian Stiefenhofer und Florian Breier, Produktion: Bilderfest, ZDF, Reihe: Terra X, Erstsendung: 17. Juli 2016 im ZDF, Inhaltsangabe von fernsehserien.de, Internet-Video, aufrufbar bis zum 17. Juli 2026, darin Tulla ab: 7:04 Min. – 12:32 Min.
→ Ausschnitt: Wie der Rhein durch Begradigung kürzer wurde. Dokumentarfilm, Deutschland, 2021, 4:09 Min., Buch und Regie: Christian Stiefenhofer und Florian Breier, Produktion: Terra X plus, Internetpublikation: 17. März 2021 auf YouTube, Internet-Video mit Inhaltsangabe.
Der Flussbaumeister – Wie Tulla den Rhein begradigte.Doku-Drama mit Experteninterviews, Deutschland, 2020, 89:30 Min., Buch: Peter Bardehle, Marc Ottiker, Christian Stiefenhofer, Regie: Peter Bardehle, Regie der Spielszenen: Christian Stiefenhofer, Produktion: Vidicom Media, arte, SWR, Erstsendung: 15. August 2020 bei arte, Inhaltsangabe von ARD. U. a. mit Steffen Schroeder als Tulla. (Tagebuchaufzeichnungen, ingenieurmäßige Ausbildung durch Europareisen, Nachwirkungen.) Besprechung:[19].
↑Nicole Zerrath: Tulla und sein Wegbegleiter. In: dies. u. a., Über das Leben des Wasserbauingenieurs und Gelehrten Johann Gottfried Tulla, 2015, S. 4–29, hier S. 28f.