Jacob Neusner

Jacob Neusner (* 28. Juli 1932 in Hartford, Connecticut; † 8. Oktober 2016 in Rhinebeck, New York[1]) war ein amerikanischer Religionswissenschaftler und Judaist. Er veröffentlichte als Autor oder Herausgeber mehr als 900 BĂŒcher ĂŒber die Tora, den Talmud und andere jĂŒdische Schriften und befasste sich auch mit den christlichen Schriften des Neuen Testaments.

Biografie

Neusner wurde in Hartford (Connecticut) geboren und wuchs in einer dem amerikanischen Reformjudentum angehörenden Familie in einem christlich geprĂ€gten Umfeld auf.[2] Er studierte an der Harvard-UniversitĂ€t, an der UniversitĂ€t Oxford und an der Columbia-UniversitĂ€t sowie am Jewish Theological Seminary, dem Rabbinerseminar des amerikanischen konservativen Judentums, wo er seine rabbinische Ordination erhielt. Neusner lehrte an der Columbia-UniversitĂ€t, der University of Wisconsin–Milwaukee, der Brandeis University, dem Dartmouth College, der Brown University, der University of South Florida und am Bard College, New York.[3]

Neusner war Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton und Mitglied auf Lebenszeit am Clare College der UniversitĂ€t Cambridge. Er war der einzige Wissenschaftler, der sowohl der Nationalstiftung der USA fĂŒr Geisteswissenschaften und derjenigen fĂŒr die KĂŒnste angehörte. DarĂŒber hinaus hat er zahlreiche akademische Auszeichnungen, Ehrungen und andere Achtungsbezeugungen erhalten.[4]

Neusner war ein glĂ€ubiger Jude der amerikanisch konservativen Richtung, der seinen eigenen Angaben zufolge zum amerikanischen Reformjudentum seiner Kindheit zurĂŒckkehrte.[5] Er lehrte mit christlichen Theologen zusammen an der UniversitĂ€t und zeigte tiefen Respekt fĂŒr den Glauben seiner christlichen Kollegen, ohne deshalb die GĂŒltigkeit der jĂŒdischen Auslegung der Heiligen Schriften in Frage zu stellen.[6]

Forschung und Lehre

Neusners wissenschaftlicher TĂ€tigkeitsbereich war sehr weit gespannt. Im Zentrum seiner ForschungstĂ€tigkeit standen das antike rabbinische Judentum zur Zeit der Mischna und des Talmud. Neusner war einer der Pioniere in der Anwendung der „Form-Kritik“ zur Erschließung rabbinischer Texte. Viele seiner Arbeiten verfolgen das Ziel, die vorherrschende Methode, in der das rabbinische Judentum als eine einheitliche religiöse Bewegung aufgefasst wird, zu dekonstruieren. Im Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung sah Neusner jedes rabbinische Dokument als individuellen Beitrag an, durch den lediglich ein Licht auf das lokale und spezifische Judentum des Autors geworfen werde.[7]

Die Methode, Dokumente individuell zu verstehen, ohne sie mit anderen rabbinischen Dokumenten desselben Zeitalters oder Genres in einen Zusammenhang zu stellen, fĂŒhrte zu einer Reihe von Studien ĂŒber die Bildung von VerstĂ€ndniskategorien im Judentum und ihre gegenseitigen Beziehungen – wie sie exemplarisch in den vielfĂ€ltigen rabbinischen Texten erscheinen. Neusners Arbeiten zeigten zum Beispiel, wie stark das Judentum in das System des Pentateuch integriert ist, wie Kategorien wie „Verdienst“ und „Reinheit“ im Judentum wirken und wie das klassische Judentum die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 verarbeitete und transzendierte.

Neusner ĂŒbersetzte viele rabbinische Schriften ins Englische und machte sie Wissenschaftlern anderer Fachgebiete, die das HebrĂ€ische und AramĂ€ische nicht beherrschen, zugĂ€nglich. Seine Übersetzungstechnik benutzte das „Harvard-outline“-Format, mit dem versucht wird, die Argumentationsketten rabbinischer Texte auch jenen verstĂ€ndlich zu machen, die mit talmudischer Argumentationsweise nicht vertraut sind.

Neben seinen historischen Arbeiten und den Textbearbeitungen verfasste Neusner auch theologisch ausgerichtete BĂŒcher, so Israel: Judaism and its Social Metaphors und The Incarnation of God: The Character of Divinity in Formative Judaism.

Neusner schrieb mehrere BĂŒcher, die die Beziehungen des Judentums zu anderen Religionen erforschen. Sein Buch Ein Rabbi spricht mit Jesus[8] ist der Versuch, eine religiös fundierte Grundlage fĂŒr den christlich-jĂŒdischen Dialog zu erarbeiten. Neusner wendet sich darin sowohl gegen christologische BemĂŒhungen, das Judentum Jesu in den Vordergrund zu rĂŒcken, wie auch gegen jĂŒdische Versuche, Jesus als Rabbi anzuerkennen. Das Buch wurde von Joseph Ratzinger, dem spĂ€teren Papst Benedikt XVI., in seinem Buch Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur VerklĂ€rung positiv gewĂŒrdigt. Neusner nahm den Papst denn auch 2008 gegen die heftige Kritik von jĂŒdischer Seite wegen der Anerkennung und Überarbeitung der „FĂŒrbitte fĂŒr die Bekehrung Juden“ in die Karfreitagsliturgie des außerordentlichen Ritus in Schutz und wĂŒrdigte den Gebetstext als Ausdruck eines liberalen Denkens („liberality of spirit“), wie es sich auch im Gebet ausdrĂŒcke, das Juden tĂ€glich sprechen, in dem sie darum bitten, dass Gott die Völker erleuchte und sie in seinem Reich zusammenfĂŒhren möge.[9]

Neusner entwickelte im Rahmen seiner Studien zum Judentum und zur jĂŒdischen Religion Methoden und Theorien, die auf das Studium der Religionen allgemein anwendbar sind, und hat auch mit Wissenschaftlern anderer Religionen zusammengearbeitet. Ein Vergleiche zwischen Judentum und Christentum wird in The Bible and Us: A Priest and A Rabbi Read Scripture Together[10] erarbeitet. In Zusammenarbeit mit Gelehrten des Islam wird in World Religions in America: An Introduction[11] ein Eindruck davon vermittelt, wie sich die verschiedenen Religionen im typischen amerikanischen Kontext entwickelt haben.

ZusĂ€tzlich zu seinen wissenschaftlichen TĂ€tigkeiten engagierte Neusner in der Erarbeitung jĂŒdischer und religiöser Studien an den amerikanischen UniversitĂ€ten und förderte mehrere Konferenzen und Projekte zur VerstĂ€ndigung der Religionen. Behandelt wurden unter anderem Themen wie „Unterschiede der Religionen“, „Religion und Gesellschaft“, „Religion und materielle Kultur“, „Religion und Wirtschaft“, „Religion und NĂ€chstenliebe“ und „Religion und Toleranz“. Daneben verfasste er zahlreiche LehrbĂŒcher sowie fĂŒr ein breiteres Publikum gedachte BĂŒcher. Die bekanntesten sind The Way of Torah: An Introduction to Judaism.[12] und Judaism: An Introduction[13] Neusner begrĂŒndete mit verschiedenen wissenschaftlichen Verlagen Buchreihen und Veröffentlichungsprogramme, dank deren die Karrieren vieler junger Wissenschaftler rund um die Erde gefördert werden konnten.

Kritik

Neusner wurde von zahlreichen Fachkollegen kritisiert, so auch von seinen ehemaligen Lehrern Saul Lieberman, Solomon Zeitlin und Morton Smith. Sie warfen ihm vor, viele seiner Argumente seien zirkulĂ€r oder versuchten, sogenannte „negative Annahmen“ mit nicht stichhaltigen Beweisen zu belegen (z. B. Cohen, Evans, Maccoby, Poirier, Sanders). Außerdem stehen viele Wissenschaftler Neusners Lesart und Interpretationen der rabbinischen Texte kritisch gegenĂŒber. Der Zugang zu ihnen sei forciert und ungenau (z. B. Cohen, Evans, Maccoby, Poirier und im Detail Zuesse). Zudem stellen sie seine HebrĂ€isch- und AramĂ€ischkompetenz in Frage.

Neusner hatte versucht zu zeigen, dass die PharisĂ€er des zweiten Tempel tatsĂ€chlich nur eine sektiererische Randgruppe darstellten, die sich als eine Art Tischgemeinschaft mit einem besonderen Reinheitsritual in Bezug auf Speisen gebildet hatte, aber an weiteren jĂŒdischen Werten und sozialen Problemen nicht interessiert gewesen sei. Diese Annahmen stehen im Widerspruch zu den zeitgenössischen AusfĂŒhrungen Flavius Josephus’, der das Tischgebet (hebr. Birkat Ha-Mason) als von den PharisĂ€ern entwickelt beschreibt, was auch in der frĂŒhen rabbinischen Literatur bestĂ€tigt wird. Neusners Darstellung wird von Zeitlin und Maccoby bezweifelt. Eine ausfĂŒhrliche Kritik stammt von E. P. Sanders, der zum Schluss kam, dass Neusners Interpretationen der pharisĂ€ischen Diskussionen und BeschlĂŒsse ungenau und willkĂŒrlich und die daraus gezogenen SchlĂŒsse fragwĂŒrdig seien. Beispielsweise behauptete Neusner, dass sich 67 % der von den pharisĂ€ischen „HĂ€usern“ gefĂŒhrten Diskussionen um das Thema „Reinheit der Speisen“ gedreht hĂ€tten, Sanders geht dagegen davon aus, dass dieses Thema nur weniger als 1 % der Diskussionen ausgemacht habe.

Daniel Boyarin kritisierte Neusners’ Umgang mit der Methode der IntertextualitĂ€t und warf ihm vor, den Begriff der IntertextualitĂ€t misszuverstehen, wenn er ihn als Charakteristikum eines Textes im Gegensatz zu einem anderen versteht.[14] Als Beispiel fĂŒr dieses MissverstĂ€ndnis nannte Boyarin James Kugels Werk Two Introductions to Midrash,[15] das in Neusners’ Werk The Case of James Kugel’s Joking Rabbis and Other Serious Issues kritisiert wurde.[16] Neusner sei, so Boyarin, besessen davon, gegen den von ihm missverstandenen Begriff der IntertextualitĂ€t als Merkmal des Midrasch zu argumentieren und habe in seinem Bestreben, die Vertreter der IntertextualitĂ€t auf jede mögliche Weise anzugreifen, das Feuer gegen jene Gelehrten eröffnet, die er als Kugel und seine Freunde oder manchmal als „Prooftexts Kreis“ bezeichnet.[17]

Die berĂŒhmteste und zugleich vernichtendste Kritik kam jedoch von Neusners frĂŒherem Lehrer, dem angesehenen Talmudspezialisten Saul Lieberman, hinsichtlich Neusners Übersetzung des Jerusalemer Talmuds. Lieberman schrieb: „man beginnt an der GlaubwĂŒrdigkeit des Übersetzers zu zweifeln. Und tatsĂ€chlich ist der Leser nach einer auch nur oberflĂ€chlichen Durchsicht der Übersetzung verblĂŒfft ĂŒber [Neusners] Unkenntnis des rabbinischen HebrĂ€isch, der aramĂ€ischen Grammatik und insbesondere der Thematik, die er behandelt.“ Er schloss seine Besprechung mit den Worten: „ich fasse mit einem reinen Gewissen zusammen: der angemessene Ort fĂŒr [Neusners] Übersetzung ist die MĂŒlltonne.“[18]

Literatur

(deutsch)

  • Ein Rabbi spricht mit Jesus: ein jĂŒdisch-christlicher Dialog. Herder, Freiburg 2007, ISBN 978-3-451-29583-6.
  • Ein Rabbi spricht mit Jesus: ein jĂŒdisch-christlicher Dialog. Claudius-Verlag, MĂŒnchen 1997, ISBN 3-532-62208-4.
  • Die Gestaltwerdung des Judentums: die jĂŒdische Religion als Antwort auf die kritischen Herausforderungen der ersten sechs Jahrhunderte der christlichen Ära. Lang, Frankfurt am Main / Wien u. a. 1994, ISBN 3-631-44571-7.
  • Judentum in frĂŒhchristlicher Zeit. Calwer Verlag, Stuttgart 1988, ISBN 3-7668-0775-7.
  • Das pharisĂ€ische und talmudische Judentum: neue Wege zu seinem VerstĂ€ndnis. Mohr, TĂŒbingen 1984, ISBN 3-16-144795-6.

(Auswahl englisch)

  • The Case of James Kugel’s Joking Rabbis and Other Serious Issues. In: Wrong Ways and Right Ways in the Study of Formative Judaism. Atlanta 1988, ISBN 1-55540-228-3, S. 59–73.

Einzelnachweise

  1. ↑ Scholar Jacob Neusner dead at 84. JNi Media-Meldung auf der Website der The Jewish Press, 9. Oktober 2016, abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  2. ↑ Haviv Rettig Gur: ‘A utopian document, a utopian law’. In: The Jerusalem Post. 14. August 2008, abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  3. ↑ Jacob Neusner. In: The Huffington Post. Abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  4. ↑ Jacob Neusner. Bard College, abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  5. ↑ Jacob Neusner: Returning to Reform. In: The Jewish Daily Forward. 25. November 2009, abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  6. ↑ Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur VerklĂ€rung. Herder, Freiburg / Basel / Wien 2007, ISBN 978-3-451-29861-5, S. 134–135.
  7. ↑ Jacob Neusner: Judaism: The Evidence of the Mishnah. Chicago 1981 (ĂŒbersetzt ins HebrĂ€ische und Italienische).
  8. ↑ Original: A Rabbi Talks with Jesus. Philadelphia, 1993; ĂŒbersetzt ins Deutsche, Italienische und Schwedische.
  9. ↑ Jacob Neusner: Catholics Have a Right To Pray for Us. In: The Jewish Daily Forward. 28. Februar 2008, abgerufen am 13. Oktober 2016 (englisch).
  10. ↑ New York, 1990; ĂŒbersetzt ins Spanische und Portugiesische.
  11. ↑ Dritte Auflage. Nashville 2004.
  12. ↑ Belmont, 2003.
  13. ↑ London und New York, 2002; ĂŒbersetzt ins Portugiesische und Japanische.
  14. ↑ „While recent writers on rabbinic literature have already discussed it in terms of intertextuality, I believe that a misreading of this concept often shows up in their texts, for they speak of ‘intertextuality’ as if it were a characteristic of some texts as opposed to others.“ In: Daniel Boyarin: Intertextuality and the Reading of Midrash. Indiana University Press, 1994, ISBN 0-253-20909-9, S. 12.
  15. ↑ James Kugel: Two Introductions to Midrash. In: Hartman und Budick, S. 77–105.
  16. ↑ Jacob Neusner: The Case of James Kugel’s Joking Rabbis and Other Serious Issues. In: ders.: Wrong Ways and Right Ways in the Study of Formative Judaism. Atlanta 1988, S. 59–73.
  17. ↑ „Neusner has a kind of obsession with arguing against his misconceived notion of intertextuality as a characteristic of midrash. In his zeal to attack the intertextualists on every possible front, he has opened here another battlefield against those scholars that he refers to as Kugel and his friends or sometimes the Prooftexts circle.“ In: Boyarin, S. 13.
  18. ↑ Saul Lieberman: A Tragedy or a Comedy. In: Journal of the American Oriental Society. Band 104(2), April/Juni 1984, S. 315–319.