Ideenreportage
Die Ideenreportage ist ein von Michel Foucault 1978 geprägter Begriff und bezeichnet eine besondere Form der Reportage, bei der eine Zusammenarbeit von Journalisten und Intellektuellen angedacht war. Die Journalisten und Intellektuellen sollten an Orte fahren, an denen Ideen entstehen oder vergehen und in ihren Ideenreportagen sowohl von den Ereignissen als auch von den Ideen, die die Ereignisse auslösen, berichten.
„Es gilt, der Geburt der Ideen beizuwohnen und ihre Explosivkraft zu erleben, und dies nicht in den Büchern, in denen sie vorgestellt werden, sondern in den Ereignissen, in denen sich ihre Kraft zeigt, und in den Kämpfen, die für oder gegen sie geführt werden.“
– Michel Foucault: Die „Ideenreportage“.[1]
Geschichte
Im Mai 1978 bat der italienische Verlag Rizzoli Foucault darum, regelmäßig für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera über aktuelle Entwicklungen zu schreiben. Foucault lehnte zunächst ab und schlug vor, eine Gruppe von Intellektuellen mit dieser Aufgabe zu beauftragen.
Im Juni 1978 entwickelte er mit dem Leiter des Pariser Büros des Corriere della Sera das Programm für die Ideenreportagen. Foucault sah Reportagen vor von:
Tatsächlich erschienen sind jedoch nur die Reportagen von:
Foucault reiste zweimal (September und November 1978) nach Teheran, um den revolutionären Ereignissen beizuwohnen, und verfasste acht Ideenreportagen[2]
für den Corriere della sera, die alle als Titelstory auf Seite eins der Zeitung erschienen. In diesen Reportagen schilderte er zum einen seine Eindrücke von den Ereignissen, und zum anderen versuchte er im Sinne des Konzeptes der Ideenreportage, den Einfluss des schiitischen Islam auf die Ereignisse zu beleuchten.[3]
Kontroverse
Die einzige in Frankreich in Le Nouvel Observateur erschienene Ideenreportage Foucaults[4] löste sowohl unter der Leserschaft[5] als auch unter Kollegen[6] eine Kontroverse aus: So wurde ihm u. a. blinde Begeisterung und eine unkritische Haltung gegenüber den Forderungen der Islamischen Revolution vorgeworfen. Foucault ging auf die Einwände nicht ein, verwies jedoch auf den polemischen und emotional aufgeladenen Charakter der Entgegnungen.[7]
Nach der Machtergreifung durch Ajatollah Chomeini äußerte sich Foucault nur noch zweimal öffentlich zu diesem Thema: In einem offenen Brief an Mehdi Bāzargān, der in Le Nouvel Observateur erschien, forderte er den damaligen Premierminister u. a. dazu auf, seiner Verantwortung nachzukommen und darauf zu achten, dass die Menschenrechte im Iran eingehalten werden;[8] in seinem letzten Artikel in Le Monde zur Revolution im Iran beleuchtete er das Phänomen der Revolte – unabhängig von ihren realpolitischen Konsequenzen – und sprach seinen Respekt für den Mut der Menschen aus, sich trotz aller Gefahr zu erheben.[9]
Rezeption
Besonders im englischsprachigen Raum wurden die Ideenreportagen Foucaults seit 2000 vermehrt und fächerübergreifend rezipiert. Die meisten Texte zu diesen Arbeiten Foucaults setzten sich mit einem weiteren von ihm in den Ideenreportagen entworfenen Konzept der Spiritualisierung der Politik – dem Einfluss des schiitischen Islam, der Spiritualität, auf die Entstehung eines politischen Bewusstseins – kritisch auseinander.[10] Der deutsche Kulturwissenschaftler Philipp Felsch schrieb sein Buch Der lange Sommer der Theorie (2015) als Ideenreportage.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Michel Foucault: Die „Ideenreportage“. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M. 2003, S. 886. ISBN 978-3-518-58437-8
- ↑ Michel Foucault: Die Armee, wenn die Erde bebt. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band III, 1976 – 1979. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 829–838.
- Michel Foucault: Der Schah ist hundert Jahre zurück. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band III, 1976 – 1979. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 850–856.
- Michel Foucault: Teheran der Glaube gegen den Schah. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band III, 1976 – 1979. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 856–862.
- Michel Foucault: Revolte mit bloßen Händen. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band III, 1976 – 1979. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003 S. 878 – 882.
- Michel Foucault: Streit in der Opposition. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 882–885.
- Michel Foucault: Die iranische Revolution breitet sich mittels Tonbandkassette aus. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 888–893.
- Michel Foucault: Das mythische Oberhaupt der Revolte im Iran. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003; S. 894–898.
- Michel Foucault: Pulverfass Islam. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003, S. 949 – 952. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ Zum Hintergrund der Entstehung der Ideenreportagen vergleiche: Daniel Defert, Francoise Ewald, Jaques Lagrange: Zeittafel. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band I, 1954 – 1969. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003 S., 15 – 106. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ Michel Foucault: Wovon träumen die Iraner? In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Escrites. Band III, 1976 – 1979. Hrsg. von: D. Deffert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003 S. 862 – 870. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ Atossa H.: An Iranian Woman Writes. In: J. Afary and K. B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Gender and Seduction of Islam. Chicago, 2005, S. 209 – 210. ISBN 0-226-00785-5
- ↑ Claudie and Jacques Broyelle: What Are the Philosophers Dreaming About? Was Michel Foucault Mistaken about the Iranian Revolution? In: J. Afary and K. B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Gender and Seduction of Islam. Chicago, 2005, S. 247 – 249. ISBN 0-226-00785-5
- ↑ Michel Foucault: Antwort Michel Foucaults an eine iranische Leserin. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003. S. 887. und Michel Foucault: Michel Foucault und der Iran. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003 S. 952 – 953. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ Michel Foucault: Offener Brief an Mehdi Bazargan. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003. S. 974 – 977. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ Michel Foucault: Sinnlos sich zu erheben. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrites. Band III. 1976 – 1979. Hrsg.: D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange. Aus dem Französischen von M. Bischoff, H.-D. Gondeck, H. Kocyba und J. Schröder. Frankfurt a. M., 2003. S. 987 – 992. ISBN 978-3-518-58372-2
- ↑ siehe dazu u. a.:
- Pal Ahluwalia: Post-structuralism’s colonial roots: Michel Foucault. In Social Identities: Journal for Study of Race, Nation and Culture 16 (September 2010), S. 587–606.
- Janet Afary: Shi’i Narratives of Karbalâ and Christian Rites of Penance: Michel Foucault and the Culture of the Iranian Revolution, 1978 – 1979. In: Radical History Review 78 (Spring 2003), S. 7–35.
- Janet Afary and Kevin B. Anderson: Revisiting Foucault and the Iranian Revolution. In: New Politics 10 (Summer 2004), S. 1–10.
- Janet Afary and Kevin B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Gender and the Seduction of Islamism. Chicago 2005. ISBN 0-226-00785-5
- Alain Beaulieu: Toward a liberal Utopia: The connection between Foucault’s reporting on the Iranian Revolution and te ethical turn. In: Philosophy and Social Criticism 36 (2010), S. 801–818.
- James W. Bernauer: Foucault and Theology: the Politics of Religious Experience. Ashgate 2004. ISBN 0-7546-3353-5
- Jeremy R. Carrette: Foucault and Religion: Spiritual Corporality and Political Spirituality. London 2000. ISBN 0-415-20259-0
- Ulrika Martensson: The Power of Subject: Weber, Foucault and Islam. In Critique: Critical Middle Eastern Studies 16 (Summer 2007), S. 97–136.
- Slavoj Zizek: Intellectuals, Not Gadflies. In: Critical Inquiry 34 (Winter 2008), S. 21–35.
Zur Rezeption im deutschsprachigen Raum siehe:
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