Hildegard Freund entstammte einer jüdisch-liberalen Familie, ihre Eltern waren der Kaufmann Abraham Adolph Freund und seine Frau Berta.[1] Sie besuchte das Sophie-Charlotte-Lyzeum („Charlottenlyzeum“) in Berlin, bis die Familie, bedingt durch den Beruf des Vaters, in die Schweiz zog, wo Hildegard 1903 maturierte.[2] Sie studierte in Zürich Literatur und Philosophie, promovierte 1908 mit magna cum laude zum Dr. phil. und studierte dann in BerlinSozialwissenschaft.
1907 heiratete sie den Ungarn Alexander Burjan (* 26. November 1882; † 6. November 1973), den sie in Zürich kennengelernt hatte. An einer schweren Nierenkolik erkrankt, wurde sie am 9. Oktober 1908 ins Berliner St. Hedwig-Krankenhaus eingeliefert, wo sie von den Barmherzigen Schwestern vom hl. Karl Borromäus gepflegt wurde. Diese beeindruckten sie mit ihrer aufopfernden Hingabe an andere Menschen aus dem Glauben heraus sehr. Nach Monaten vergeblicher Bemühungen sahen die Ärzte bereits keine Hoffnung mehr für sie und gaben ihr zur Linderung der Schmerzen Opium. In der Karwoche des Jahres 1909 war Hildegard Burjan dem Tode nah. Am Morgen des 11. April 1909, des Hochfestes der Auferstehung Jesu Christi, setzte jedoch eine unerwartete Besserung ein, die zu ihrer baldigen Entlassung nach sieben Monaten Krankenhausaufenthalt führte.[3]
In Zürich war Hildegard Burjan schon durch den Literaturhistoriker und Philosophen Robert Saitschick sowie den Philosophen und Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster mit christlichem Gedankengut in Berührung gekommen.[2] Der lebendige Eindruck jedoch, den die Zuwendung der Pflegeschwestern ihr gemacht hatte, sowie die aufwühlende Erfahrung ihrer unerwarteten, zu Ostern einsetzenden Genesung führten sie zu einer existenziell verankerten Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Religion und Jesu von Nazareth als Messias. Sie konvertierte noch im selben Jahr zum katholischen Glauben und empfing am 11. August 1909 in der Kapelle des Berliner St. Josephs-Krankenhauses in der Niederwallstraße das Sakrament der Taufe.[4][5]
Im Herbst 1909 übersiedelten Hildegard und Alexander Burjan nach Wien, da Alexander Burjan eine leitende Stelle bei der Österreichischen Telefonfabriks A.G. angetragen worden war.[2] Sie nahmen die österreichische Staatsbürgerschaft an. In Wien brachte Hildegard Burjan 1910 ihre einzige Tochter Elisabeth zur Welt, obwohl ihr die Ärzte dringend zu einer Abtreibung geraten hatten.[6]
Hildegard Burjan wollte nicht nur Mutter und Hausfrau sein, sondern ihr „neu geschenktes Leben“, wie sie zu sagen pflegte, hilfsbedürftigen Menschen widmen.[2] Sie setzte sich vor allem für Frauen ein. 1912 gründete sie in Wien den „Verband der christlichen Heimarbeiterinnen“, um diese ausgebeutete und rechtlose Bevölkerungsgruppe zu unterstützen, 1918 den Verein „Soziale Hilfe“ und am 4. Oktober 1919 die religiöse Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis (CS),[7] die sich bis heute karitativen Aufgaben widmet, u. a. Pflegeheime und ein Hospiz führt und sich für die Ausbildung von Sozialberufen engagiert. Sie forderte die Frauen zum Boykott von Waren auf, die von Firmen stammen, die Frauen ausbeuten.
Burjan wurde später „Gewissen des Parlaments“ und „Heimarbeiterinnenmutter von Wien“ genannt. Sie kämpfte für die Rechte und die Gleichberechtigung der Frauen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zählte zu ihren wichtigsten politischen Forderungen. 1920 schied sie aus der Bundespolitik aus, widmete sich sozialen Aufgaben und beging unorthodoxe Lösungswege für die materiellen Nöte ihrer Zeit. Sie wirkte an der Neubildung der österreichischen Bahnhofsmission und an Einrichtungen der Familienpflege wie der Mittelstandsküchen mit. Sie errichtete in der Pramergasse im 9. Wiener Gemeindebezirk ein Heim für Mütter mit ledigen Kindern und schwierigem sozialen Umfeld sowie eine Ausgabestelle für kostenlose Kleidung. Damit wurde sie eine Wegbereiterin moderner Sozialarbeit.
Mit dem Prälaten und christlichsozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel, der insgesamt fünfeinhalb Jahre an der Spitze der Regierung stand, war sie sehr verbunden. Er begleitete einerseits ihre Aktivitäten als Geistlicher und machte andererseits als Politiker viele ihrer Projekte möglich. Nach seinem Tod im Jahr 1932 initiierte sie den Bau der Christkönigskirche in Wien als Gedächtniskirche für Seipel im 15. Wiener Gemeindebezirk.
Hildegard Burjan war, bedingt auch durch die berufliche Stellung ihres Mannes Alexander Burjan, des Generaldirektors der Österreichischen Telephonfabrik AG, mit dem christlichsozialen, 1934 als Diktator von Nationalsozialisten ermordeten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß näher bekannt. So nahm dieser während ihrer letzten schweren Krankheit regen Anteil an ihrem Befinden und ließ ihr einen vom Papst persönlich gewidmeten Rosenkranz zukommen.[8] Dollfuß hatte im März 1933 das Parlament ausgeschaltet; Hildegard Burjan erlebte aber die Ausprägung des Austrofaschismus bzw. des Ständestaates nicht mehr.[9] Nach ihrem Tod übernahm Dollfuß’ Ehefrau Alwine Dollfuß einige von Burjans Agenden, darunter den Ehrenvorsitz der Sozialen Hilfe und die Organisation der Elisabethtische.[10] Außerdem war sie ebenfalls Mitglied im Baukomitee der Christkönigskirche und trug dazu bei, dass Dollfuß nach seinem Tod bis 1938 wie Seipel in der Christkönigskirche bestattet wurde. Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Bau daher Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche genannt.[11]
Knapp zweieinhalb Jahrzehnte nach ihrer unerwarteten Genesung, die ihr ermöglicht hatte, sich ihrem Lebenswerk zu widmen, starb Hildegard Burjan im Sommer 1933, erst fünfzigjährig, trotz einer weiteren Operation schließlich an der wieder aufbrechenden Nierenerkrankung, an der sie schon als Jugendliche gelitten hatte und deren Folgen sie ihr Leben lang begleiteten.[12] Sie wurde in einem Metallsarg in einer Gruft auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet (Gruppe 34G, Nr. 33).
Zuletzt wohnte sie mit ihrem Mann in einer großbürgerlichen Villa in der Larochegasse 35 im 13. Wiener Gemeindebezirk, Hietzing, im Bezirksteil Unter-St.-Veit (Gedenktafel). Alexander Burjan, Industrieller und Vorstandsmitglied der Radio Verkehrs AG (später ORF), lebte bis 1938 dort und konnte sein Leben durch die Flucht nach Brasilien retten.[13] Nach dem Krieg kehrte er zurück, und das unter dem NS-Regime enteignete Haus wurde auf ihn zurück übertragen. Er verkaufte die Villa, blieb aber in Wien, wo er 1973 verstarb und ebenfalls in der Gruft auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet wurde.
Die Tochter Elisabeth (1910–2005) besuchte die Schulen der Dominikanerinnen und lebte ab 1934 in London, später in Washington. Sie war im diplomatischen Dienst tätig und nach Beendigung ihrer Berufslaufbahn fast 30 Jahre für den Vatikan als Dolmetscherin im Einsatz. Sie starb in Rom und wurde neben ihren Eltern in der Gruft auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet.[14]
Papst Johannes Paul II. besuchte am 21. Juni 1998 das Caritas-Socialis-Hospiz Rennweg, wo er sich anerkennend über Hildegard Burjan äußerte.[15]
Der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn unterstützte das Seligsprechungsverfahren: Für die Erzdiözese Wien, aber auch für ganz Österreich ist Hildegard Burjan eine beeindruckende Gestalt – ein Mensch zum Vorzeigen, und er würdigte in einer Ansprache das Wirken von Hildegard Burjan mit den Worten: Mit einem offenen Herzen für die Nöte der Zeit hat sie sich für die Rechte der Unterprivilegierten und gegen jede soziale Ausgrenzung von Randgruppen durch die Gesellschaft eingesetzt.[16] Am 7. Juni 2011 erkannte das Kardinalskollegium in Rom das für eine Seligsprechung notwendige Wunder an. Das anerkannte Wunder betrifft die Heilung einer Frau, die sich in ihrem Anliegen an Hildegard Burjan gewandt hat: Infolge mehrerer Operationen konnte sie kein Kind zur Welt bringen. Dass sie später drei gesunden Kindern das Leben schenkte, ist nach Auffassung der den Fall beurteilenden Ärzte medizinisch nicht erklärbar.[17]
Papst Benedikt XVI. bestätigte am 27. Juni 2011 das Dekret der Seligsprechungskongregation, das eine Wunderheilung auf Vermittlung Burjans anerkennt. Die Seligsprechung erfolgte am 29. Jänner 2012 im Wiener Stephansdom durch Kardinal Angelo Amato.[18] Dies war die erste Seligsprechung im Stephansdom.[19]
Hildegard Burjans liturgischer Gedenktag ist der 12. Juni.
Anlässlich ihres 100. Geburtstages wurde im Jahr 1983 von der österreichischen Post eine Sonderpostmarke aufgelegt.[21]
Im Jahr 1984 wurde in Wien Rudolfsheim-Fünfhaus (15. Bezirk) der Burjanplatz nach ihr benannt, der sich unmittelbar vor der von ihr initiierten Christkönigskirche befindet.
Eine in ihrem letzten Wohnbezirk in Wien, dem 13. Bezirk, 1994/1995 nach Plänen von Walter Buck errichtete städtische Wohnhausanlage in der Speisinger Straße 46–48 mit 31 Wohnungen wurde Hildegard-Burjan-Hof benannt.
In ihrer Heimatstadt Görlitz erinnern ein Platzname und eine 2012 an ihrem Geburtshaus, Elisabethstraße 36, enthüllte Gedenktafel an sie sowie eine für die Görlitzer Kathedralkirche St. Jakob im Jahre 2013 gegossene Glocke.
Irmgard Burjan-Domanig: Hildegard Burjan, eine Frau der sozialen Tat. 3. Aufl. Caritas Socialis, Wien 1976.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Mystik, Emanzipation und Politik: Hildegard Burjan (1883–1933). Caritas Socialis, Wien 2004.
Gisbert Greshake: Selig, die nach Gerechtigkeit dürsten: Hildegard Burjan: Leben – Werk – Spiritualität, Tyrolia, Innsbruck 2008, ISBN 978-3-7022-2957-3.
Alfred Koblbauer: Spiritualität. 2. Band: Hildegard Burjan. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling 1976.
Michaela Kronthaler: Hildegard Burjan (1883–1933). Katholische Arbeiterinnenführerin und christliche Sozialpolitikerin. Dr.-Karl-Kummer-Institut für Sozialpolitik und Sozialreform in Steiermark, Graz 1995.
Michaela Kronthaler: Die Frauenfrage als treibende Kraft: Hildegard Burjans innovative Rolle im Sozialkatholizismus und Politischen Katholizismus vom Ende der Monarchie bis zur 'Selbstausschaltung' des Parlaments (= Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und Kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 8). Styria, Graz-Wien-Köln 1995, ISBN 3-222-12358-6.
↑Ingeborg Schödl: Frauenrechtlerin – Sozialpolitikerin – Ordensgründerin. Die neue Selige Hildegard Burjan (1883–1933). In: Stimmen der Zeit, Bd. 230 (2012), S. 60–63, hier S. 60.
↑ abcdIngeborg Schödl: Frauenrechtlerin – Sozialpolitikerin – Ordensgründerin. Die neue Selige Hildegard Burjan (1883–1933). In: Stimmen der Zeit, Bd. 230 (2012), S. 60–63, hier S. 61.
↑Erika Weinzierl: Emanzipation? Österreichische Frauen im 20. Jahrhundert. Jugend & Volk, Wien 1975, S. 159.
↑Ingeborg Schödl: Frauenrechtlerin – Sozialpolitikerin – Ordensgründerin. Die neue Selige Hildegard Burjan (1883–1933). In: Stimmen der Zeit, Bd. 230 (2012), S. 60–63, hier S. 62.
↑Hilfsfondssammlung in Paris. In: Allgemeiner Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger / Tiroler Anzeiger. Mit der Beilage: „Die Deutsche Familie“ Monatsschrift mit Bildern / Tiroler Anzeiger. Mit den illustrierten Beilagen: „Der Welt-Guck“ und „Unser Blatt“ / Tiroler Anzeiger. Mit der Abendausgabe: „IZ-Innsbrucker Zeitung“ und der illustrierten Wochenbeilage: „Weltguck“ / Tiroler Anzeiger. Tagblatt mit der illustrierten Wochenbeilage Weltguck, 6. März 1934, S. 2 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/tan
↑Lucile Dreidemy: ”Denn ein Engel kann nicht sterben”. Engelbert Dollfuß 1934-2012: eine Biographie des Posthumen. Wien / Straßburg 2012, S.32f. (hal.science – Dissertation Universität Wien/Universität Straßburg).
↑Produktion West TV Film: Koproduktion ORF und Produktion West: Hildegard Burjan: Anita Lackenberger und Gerhard Mader auf den Spuren der Gründerin der Caritas Socialis, 2008.
Dom Antoine Marie Beauchef OSB, Abt der Abtei Saint-Joseph de Clairval: Brief zu Hildegard Burjan vom 7. Juni 2013 (deutsche und andere Übersetzungen wählbar)