Harald Kidde wurde 1878 als Sohn eines Bezirksstraßeninspektors in Vejle geboren. Seine Schwester starb früh an Tuberkulose, sein jüngerer Bruder Aage Kidde wurde später ein konservativerPolitiker. Er wuchs behütet in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus auf, in dem Musik und Literatur allgegenwärtig waren, sodass er ganz darin aufging und den werdenden Dichter schon erahnen ließ.[1] 1898 legte er in Vejle sein Abitur ab.[2] Weil auch der Vater gestorben war, zogen die Mutter und die beiden Brüder im selben Jahr nach Kopenhagen. Hier studierte Harald Kidde Theologie und widmete sich nebenher dem Schreiben. Von dem Ziel, Theologe werden zu wollen, entfernte sich der von den kirchenkritischen Landsleuten Søren Kierkegaard und Jens Peter Jacobsen beeinflusste, und daher nicht dem lutherischenDogmatismus folgende Student Kidde jedoch mehr und mehr.[1] Seinen Zweifeln[2] und Gewissensnöten[3] nachgebend, brach er das Studium ab und suchte Abstand zu den Mitmenschen.
Er zog sich auf die kleine Insel Læsø im nördlichen Kattegat, wo seine Mutter herstammte, zurück und arbeitete im Haus eines Priesters. Hier fand er die Muße zum Schreiben. Die Veröffentlichung einer Prosaskizze über ein Mädchen, das sich aus Not einem reichen Mann hingibt, wurde ihm im Mai 1899 allerdings zum Verhängnis, denn eine harsche Zeitungskritik, in der ihm eine lockere Moral vorgeworfen wurde, führte zur Aufkündigung seiner Anstellung.[1] Kidde fand eine neue Unterkunft bei einem seiner ehemaligen Schullehrer, der Pastor in der Heide Westjütlands geworden war, und setzte seine literarischen Tätigkeiten fort. Der Entschluss, das Schreiben zum Beruf werden zu lassen, hatte sich inzwischen verfestigt.[1]
Nachdem insgesamt mehrere seiner Arbeiten in Zeitschriften abgedruckt worden waren, legte Kidde 1900 ein erstes Buch namens Sindbilleder vor, eine Sammlung von Kurzprosastücken im zeitgenössischen Stil, von ihm als „Parabeln“ bezeichnet. 1902 erschien der erste Teil seines vom eigenen Leben inspirierten Doppel-Romans Aage og Else, der Døden (dt. „Tod“) hieß. Der zweite Teil, der im folgenden Jahr herauskam, hieß entsprechend Livet (dt. „Leben“).[1]
1906 verlobte sich Kidde mit der Schriftstellerin Astrid Ehrencron-Müller, die er 1904 bei einem Aufenthalt in der Schweiz kennengelernt hatte; im Jahr darauf heirateten sie. Das kinderlose Ehepaar lebte lange Zeit in Schweden, begünstigt durch das 1913 erhaltene prestigeträchtige Anckerske-Stipendium („Anckerske Legat“). Das Paar hielt sich vor allem in Värmland auf, wo die intensive Beschäftigung, die Materialsammlungen und Vorstudien beinhaltete, mit dem ambitionierten Stoff Jærnet (dt. „Das Eisen“) begann und bis 1918, als das Buch erschien, andauerte.[1]Jærnet war als Einführung in ein großes Epos, einer Tetralogie, über die Industrialisierung Värmlands in den davor liegenden 100 Jahren gedacht.[1] Es sollte mit „Guldet“ (dt. „Das Gold“), „Ilden“ (dt. „Das Feuer“) und „Ordet“ (dt. „Das Wort“) weitergehen.[4] Das Konzept kam nicht zur Ausführung, es existieren auch keine Fragmente der Folgebände: Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges starben Harald Kidde und sein Bruder nur wenige Tage aufeinanderfolgend an der Spanischen Grippe. Jærnet war zu diesem Zeitpunkt gerade erst erschienen.[1]
Werk und Rezeption
Verkauft wurden Kiddes Bücher kaum – zu dieser Zeit hatte sein Werk den Ruf, seltsam anmutend und überaus ernst zu sein. Helten (dt. „Der Held“) von 1912 indes erreichte – wenngleich nach Anlaufschwierigkeiten – eine beachtliche Auflage und gilt heute vielerorts als sein Hauptwerk.[1]Bernhard Glienke schrieb 1982 in seinem Aufsatz über die Dänische Literatur des 20. Jahrhunderts, dass Helten ein „Ideenroman“ sei. Der Schauplatz, die kleine Kattegatinsel Anholt, sei ein geschlossenes Gesellschaftssystem und in ihm wirke die Hauptfigur im Sinne Kierkegaards als „Wahrheitswerkzeug“.[5] Die Einflussnahme auf die Bevölkerung beschrieben Hanne Marie und Werner Svendson in ihrer 1964 erschienenen Literaturgeschichte genauer. Sie bestehe aus christlich motiviertem Opferwillen und „selbstverleugnender Demut“ und führe zur Besserung der ihn umgebenden schroff und drohend auftretenden Menschen.[6]Gero von Wilpert nennt in seinem Lexikon der Weltliteratur die beschriebenen Inselbewohner „zynisch und entgleist“, während der Protagonist wie ein „Glaubenszeuge“ das Heil auf die Insel bringe. Das Buch sei „ein desperater, aber ergreifender Versuch Kiddes, eine moderne Christusfigur zu zeichnen“. Helten habe die dänische Dichtergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg stark beeinflusst, unter anderem Martin A. Hansen (Løgneren).[2] Glienke resümierte, die „Einbeziehung der Neuromantik in den Neurealismus“ in Helten erkläre, warum er bereits 1940 wiederentdeckt worden sei.[5]
Sowohl in von Wilperts als auch in Glienkes Darstellung findet Jærnet allerdings keine Erwähnung, obwohl der Roman aus heutiger Sicht wegweisend war, denn er führte eine literarische Collage- und Montagetechnik mit narrativen und dokumentarischen Elementen sowie mit Bewusstseinsstrom-Momenten ein, die einerseits die expressionistische Poesie und andererseits den essayistischen Roman vorwegnahm.[1] Laut den Svendsons ist das Buch „die Wiedergabe einer ungeheuren Folge von Gedankenverbindungen“ seines Protagonisten, von „bewußten Wahrnehmungen und Gedanken, aber auch der Regungen seines Unterbewußtseins“.[6]
Statt Jærnet wird oft Aage og Else Døden als weiteres wichtiges Werk angeführt. Meyers Enzyklopädische Lexikon bezeichnet es sodann auch neben Helten als Kiddes „Hauptwerk“.[3] Von Wilpert stellt fest, dass Kidde hier „sein Hauptthema der Lebensangst und Todessehnsucht nach einem Volkslied“ behandelt.[2] Hanne Marie und Werner Svendson kommentierten: „Die Vorliebe des Verfassers gilt offensichtlich dem jungen, noch im Pubertätsalter stehenden, in seiner Lebensscheu so schmerzlich kompromißlosen Helden, aber auch die Frau ist mit innigstem Verständnis gezeichnet.“[6]
Luftslotte, 1904.(Luftschlösser, J. C. C. Bruns, Minden 1905.)
Tilskueren, 1904, Harald Kidde, Smertens Vej.
Tilskueren, 1905, Harald Kidde, Drømmerier.
Aften, 1908. (Sonderausgabe von Ord och Bild, 17. Jahrgang, Nr. 5, gedruckt in Stockholm.)
Mødet Nytårsnat. En Krønike fra Anholt, 1917.
Vandringer, 1920.
Dinkelsbühl, 1931.
Under de Blomstrende Frugttræer, 1942.
Parabler, 1948.
Krageskrigene, 1953.
Literatur
Astrid Ehrencron-Kidde: Hvem Kalder?, 1960.
Alfons Höger: Form und Gehalt der Romane und kleineren Erzählungen Harald Kiddes, München 1969 (Dissertation).
Jens Marinus Jensen: Harald Kidde. Bidrag til en Biografi, 1924.
Jens Marinus Jensen: Harald Kidde. Artikler og Breve, 1928.
Niels Jeppesen: Harald Kidde og hans Digtning.
Iver Kjær og andre: Danske Studier 1992.
Niels Kofoed: Den Nostalgiske Dimension. En Værkgennemgang af Harald Kiddes Roman ‚Helten‘.
Ingeborg Kuke: Harald Kidde. Sein Leben und sein Werk, Jena 1940 (Dissertation, gedruckt 1942).
Laurits Nielsen: Katalog over Danske og Norske Digteres Originalmanuskripter i Det Kongelige Bibliotek.
Villy Sørensen: Digtere og Dæmoner. Fortolkninger og Vurderinger.
Otto Asmus Thomsen: Harald Kidde, Den vidt Berejste Hjemmeføding.
Cai M. Woel: Harald Kidde. Biografisk Fortegnelse.
Einzelnachweise
↑ abcdefghijHenrik Schovsbo: Harald Henrik Sager Kidde. Forfatterportræt skrevet af Henrik Schovsbo. In: adl.dk. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 30. Oktober 2020; abgerufen am 1. Juni 2019 (dänisch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/adl.dk
↑ abcdefghijkGero von Wilpert (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Band1. Kröner Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 3-520-80702-5, Kidde, S.853f.
↑Ejgil Søholm (alias „ESoehs“): Harald Kidde. In: denstoredanske.dk. Abgerufen am 1. Juni 2019 (dänisch).
↑ abBernhard Glienke: Dänische Literatur im 20. Jahrhundert. Zwischen den Durchbrüchen: 1900–1940. In: Fritz Paul (Hrsg.): Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen. Mit Beiträgen von Alken Bruns, Wolfgang Butt, Wilhelm Friese, Bernhard Glienke, Gert Kreutzer, Otto Oberholzer und Fritz Paul (= Grundzüge. Band41). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, ISBN 3-534-08047-5, Die neue Außenwelt, S.216–222, hier S. 217 (fyrkrans.info [PDF; 1,3MB; abgerufen am 1. Juni 2019] Internet-Angabe: Kompiliert am 16. Juni 2014).
↑ abcdeHanne Marie Svendsen, Werner Svendsen: Geschichte der dänischen Literatur. Karl Wachholtz Verlag/Gyldendal, Neumünster/Kopenhagen 1964, Das 19. Jahrhundert. Der seelische Durchbruch, S.377–379.