Die Göttinger Landwehr war ein Teil der Befestigungsanlagen der mittelalterlichen Stadt Göttingen. Sie bestand aus Landwehrlinien als Wall- und Grabensystem im Gelände sowie Warten, die sich an wichtigen Straßen befanden. Damit sicherte die Landwehr die Göttinger Feldmark weiträumig im Umland.
In einer Urkunde erteilte Herzog Otto der Quade 1380 dem Rat der Stadt Göttingen die Genehmigung zur Errichtung einer Landwehr. Sie lautet:
Ok sint we mit on eyndrechtich gheworden, dat se moghen lantwere graven unde graven laten unde warde buwen unde buwen laten, wur on de duncket bequeme unde gud sin, umme de stad to Gottingen unde moghen borchvrede, warde, slaghe unde bome uppe de lantwere setten laten unde de bewaren unde bewachten laten, alse se best moghen, unde dar scholde me uns unde unsere denere ut unde in laten, wanne we dat esschen unde uns des nod is.[1]
(neuhochdeutsch: Auch sind wir [=Herzog Otto, Pluralis majestatis] mit ihnen einig geworden, dass sie um die Stadt Göttingen herum Landwehren graben und graben lassen und Warten bauen und bauen lassen dürfen, wo es ihnen passend und gut zu sein scheint, und Bergfriede, Warten und Schlagbäume auf die Landwehren setzen lassen und sie instandhalten und befestigen lassen dürfen, so gut sie können, und dort soll man uns und unsere Diener aus und ein lassen, wenn wir das fordern und es für uns nötig ist.)
Nach der herzoglichen Genehmigung von 1380 ließ die Stadt Göttingen eine Landwehrlinie im Osten der Stadt errichten, an der die Lohbergwarte und die Hainbergwarte lagen. Sie wurden bereits 1387 während der Göttinger Fehde durch herzogliche Truppen zerstört. Danach folgte ein starker Ausbau der Landwehr mit einer zweiten Linie im Westen und Süden der Stadt, der um 1406 abgeschlossen war. Der Bau einer dritter Landwehrlinie begann 1407 mit dem Bau einer Warte. Anlass dafür waren die Erfahrungen der Stadt Göttingen in einer fünfjährigen Fehde mit dem Erzbischof von Mainz. Die Fehde endete 1405 und brach 1410 wieder aus. Die dritte Landwehrlinie führte nach Süden, wo sie über Friedland hinaus bis fast an die Burg Berlepsch und die Werra heran reichte.
Seine Blütezeit hatte das Göttinger Landwehrsystem im 15. Jahrhundert. Danach wurden die Warttürme aufgegeben und zumeist abgerissen. In einigen Fällen wurden sie als Wohnung oder Schänke nachgenutzt.
Beschreibung
Die Göttinger Landwehr bildete keinen geschlossenen Ring um die Stadt. Sie bestand aus mehreren Abschnitten, die in drei Zeitabschnitten entstanden. Eine Landwehrlinie wurde aus bis zu fünf Wällen und drei Gräben gebildet, die hintereinander gestaffelt waren. Die räumliche Tiefe des Befestigungssystems betrug zwischen 10 und annähernd 30 Meter. Das Wall- und Grabensystem der Landwehr hat sich bis heute vor allem in bewaldeten Bereichen erhalten. Die Gräben sind von der Grabensohle bis zur Walloberkante noch zwischen einem und zwei Meter tief.
Im Verlauf der Landwehr gab es folgende Warttürme, von denen die meisten nicht erhalten sind:
Das Landwehrsystem mit seinen fast ausschließlich an Verkehrswegen liegenden Warttürmen ermöglichte die Lenkung des Verkehrs und die Behinderung von Schmuggel sowie Viehdiebstahl.
Die Warttürme dienten weniger als Frühwarnsystem zum Erspähen von äußeren Feinden, da das Sichtfeld vielfach durch die Höhenzüge des Leinetals eingeschränkt war. Es umfasste einer Sichtbarkeitsanalyse zufolge ein Gebiet von rund 15 × 23 km. Nur von einzelnen Warten konnte das äußere Vorfeld weiträumig eingesehen werden. Dies waren die Backenbergwarte, deren Blick im Leinetal bis Nörten reichte und die Kritenwarte bei Mollenfelde, von der ins Werratal bis Hedemünden gesehen werden konnte.
Den Warten kam vor allem eine Überwachungs- und Kontrollfunktion für das von der Landwehr umgebene Binnengelände zu. Es wird angenommen, dass es von den Warten eine Informationsübermittlung in die Stadt gab. Dafür kommen Meldereiter oder Signale in Betracht. Als zentrale Stelle für die Weiterleitung von optischen Signalen kommt die Warte Sestelle infrage, die Sichtverbindung zu 10 anderen Warten und zum 62 Meter hohen Nordturm der Göttinger St.-Johannis-Kirche hatte.
Forschungsgeschichte
Archäologische Untersuchungen am Landwehrsystem setzten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. 1890 untersuchte der Prähistoriker Carl Schuchhardt die Kritenwarte bei Mollenfelde. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Landwehr anhand historischer Quellen erforscht. Zu einer Ausgrabung am Landwehrsystem kam es in den Jahren 1980 bis 1982 an der Rieswarte durch die Stadtarchäologie Göttingen unter Sven Schütte. 2021 schloss eine Abschlussarbeit an der Universität Göttingen an die über 100-jährige Forschungsgeschichte der Landwehr an. Dabei kam unter anderem eine Sichtbarkeitsanalyse für die Warttürme mit GIS-gestützten Methoden zur Anwendung.
Bis heute sind noch nicht alle Landwehrverläufe und Standorte von Warten lokalisiert.
Literatur
Georg Meyermann: Die Göttinger Landwehren. In: Göttinger Blätter für Geschichte und Heimatkunde in Südhannover und seiner Nachbarschaft, 1915, S. 25–41.
Otto Fahlbusch: Warten und Landwehren um Göttingen. In: Gabe des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung, Göttingen, 1938, S. 15–44.
Thomas Küntzel: Grüne Grenzen, dornige Sperren – Landwehren im nördlichen Deutschland. In: Archäologische Berichte des Landkreises Rotenburg (Wümme), 15, 2009, S. 209–247. (Online auf academia.edu, abgerufen am 22. September 2023)
Lennart Jürges: Das Göttinger Landwehrsystem im Licht GIS-gestützter Methoden. In: Südniedersachsen, Zeitschrift für regionale Forschung und Heimatpflege, 2022, Ausgabe vom 1. März 2022, S. 17–20.
Lennart Jürges: Altes Thema, neue Methoden. Eine GIS-gestützte Analyse der Göttinger Landwehr. In: Archäologie in Niedersachsen, 2022, S. 69–72.
Lennart Jürges: dat se moghen lantwere graven. GIS-gestützte Analysen im historischen Kontext der Göttinger Landwehr. In: FAN Post 2024, S. 6–9.
↑Urkundenbuch der Stadt Göttingen bis zum Jahr 1400. In: Gustav Schmidt (Hrsg.): Urkundenbuch des historischen Vereins für Niedersachsen. Heft VI. Hahn’sche Hofbuchhandlung, Hannover 1863, *294, S.309.