Die Göttinger Handschrift ist ein in lateinischer Sprache verfasster Traktat über das Schachspiel aus der frühen Neuzeit.[1] Die Datierung ist ungewiss, sie entstand vermutlich zwischen 1500 und 1505. Die Handschrift hat ein relativ kleines Format von 14 × 10 cm. Sie wird in der Regel dem französischen Sprachkreis zugeordnet; als möglicher Entstehungsort gilt der lothringische Hof zu Nancy. Die Ähnlichkeit mit dem Werk des Spaniers Luis Ramírez Lucena, Repeticion: de amores: E arte. De axedres con cl. Iuegos. de partido., Salamanca 1497, lässt eine Abschrift oder Autorschaft desselben vermuten.[2]
Die Anrede „dominatio“ in der ersten Zeile lässt vermuten, dass die Göttinger Handschrift für einen Fürsten, über dessen Identität heftig spekuliert wird, angefertigt wurde. Die Arbeit blieb jedoch unvollendet, denn sowohl der für ein Wappen ausgesparte Platz auf der ersten Seite, wie auch drei vorlinierte, leere Seiten am Schluss des Büchleins, von denen zwei mit leerem Diagramm versehen sind, wurden nicht verwendet. Der Schriftzug 'J. B. Hautin', vorn im Buch, könnte auf den Namen eines ehemaligen Besitzers verweisen, bevor die Handschrift in den Besitz von Friedrich Boerner aus Wolfenbüttel überging, welcher sie im September 1752 mit einer Widmung (vorn im Buch) der Göttinger Universitätsbibliothek schenkte, wo sie bis heute aufbewahrt wird. 1999 wurde das Werk unter dem Titel „Über die 500 Jahre alte Göttinger Handschrift Philos.85“ in der Festschrift „75 Jahre Niedersächsischer Schachverband e.V.“, Hannover 1999, erstmals veröffentlicht.[3]
Bedeutung
Die Göttinger Handschrift ist neben dem erwähnten Werk Lucenas, Francesc VicentsLibre dels Jochs partits dels Schachs en nombre da 100 ordenat e compost, Valencia 1495, sowie dem katalanischen Schachgedicht Scachs d’amor, verfasst vom Schach- und Literatenzirkel um Bernat Fenollar, Francí de Castellví und Narcís Vinyoles zwischen 1470 und 1490, eines der ältesten Dokumente des modernen Schachs, welches die neue Gangart von Dame und Läufer zu Grunde legt. Die Rochade wurde noch in zwei bis drei Zügen in Form des sogenannten Königssprungs durchgeführt.
Inhalt
Die Göttinger Handschrift enthält 12 Partieanfänge, die zum Teil noch heute gespielt werden, sowie 30 Schachkompositionen. Es werden auch typische Eröffnungsfallen vorgestellt. Die Beschreibung der Züge erfolgt auf ziemlich umständliche Weise, da die heute gebräuchliche, algebraische Notation noch nicht bekannt war. Hier ein Beispiel von der ersten Seite, in der Übersetzung von H. Schomaeker. Beschrieben wird die Zugfolge 1. e4 e5 2. Sf3 f6 3. Sxe5 fxe5 4. Dh5+ g6 5. Dxe5+ nebst 5. Dxh8, dann überleitend zur Variante 4. … Ke7.
„Erste Regel / Eure Hoheit spielt den Königsbauern auf vier Punkte gezählt von der Stellung des Königs. Und wenn der Gegner dasselbe spielt, spielen Sie den Königsspringer auf drei Punkte gezählt von der Stellung des Königsläufers. Und wenn er den Bauern schützt mit dem Bauern des Königsläufers, nehmen sie seinen Bauern mit dem Springer. Und wenn er mit dem Bauern nimmt, geben Sie ihm Schach mit der Königin auf vier Punkte gerechnet von der Stellung seines Königsturmes. Und wenn er sich mit dem Springerbauern deckt, nehmen Sie seinen Königsbauern und geben Schach auf den Turm hin. Und wenn er sich nicht deckt und spielt auf den zweiten Punkt seiner Stellung ....“.[3]
Die 12 Partieanfänge der Göttinger Handschrift
Bestimmte Varianten folgender Eröffnungen werden in der Handschrift gezeigt, hier mit modernen Namen: