Gerhard Gentzen studierte in Greifswald, Göttingen, München und Berlin und wurde 1933 an der Universität Göttingenpromoviert. In Greifswald studierte er mit Hellmuth Kneser und in Berlin wahrscheinlich mit John von Neumann. Er war ein Schüler von Paul Bernays, nach Bernays’ Lehrverbot im April 1933 wurde offiziell Hermann Weyl sein Doktorvater.[1] Um 1934 will Gentzen in die Sturmabteilung (SA) eingetreten sein;[2] 1935 erhielt er eine Assistentenstelle beim emeritiertenDavid Hilbert. Am 13. Juni 1937 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 4.237.555).[1] Bereits zuvor war er Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbunds geworden.[3]
Gentzen wurde 1939 bis 1941 im Krieg als Funker bei Braunschweig eingesetzt, erkrankte aber und wurde daraufhin vom Wehrdienst freigestellt. 1940 habilitierte er sich in Göttingen. 1943 wurde Gentzen von Hans Rohrbach auf eine Dozentur an die deutsche Universität in Prag berufen. Neben der Dozententätigkeit und der Forschung an der Widerspruchsfreiheit der Mathematik leitete Gentzen in Prag eine Gruppe von Oberschülerinnen, die Berechnungen durchführten.[4] Trotz Warnungen[5] floh Gentzen bei Kriegsende nicht nach Deutschland. Er starb am 4. August 1945 im Kreisgefängnis am Karlsplatz in Prag an Unterernährung[6] – drei Monate nach seiner Verhaftung.
Mathematische Leistungen
Gentzen ist ein wichtiger Mitbegründer der modernen mathematischen Beweistheorie. Die nachhaltige Bedeutung der von ihm entwickelten Methoden, Regeln und Strukturen zeigt sich heute vor allem in wichtigen Teilgebieten der Informatik, der Verifikation von Programmen. Dabei werden formale Beweise selbst als Programme gedeutet.
Gentzen war einer der führenden Köpfe[7] der international arbeitenden mathematischen Grundlagenforschung und stellte 1936 und 1938 jeweils den Stand der Grundlagenforschung dar. Die zweite Arbeit hatte durch Heinrich Scholz eine Zweitveröffentlichung in der nationalsozialistischen Zeitschrift Deutsche Mathematik.[8]
„Man kann es auch so ausdrücken, dass sich für die Zahlentheorie kein ein für allemal ausreichendes System von Schlußweisen angeben lässt, sondern dass vielmehr immer wieder Sätze gefunden werden können, deren Beweise neuartige Schlußweisen erfordern.“
– Gerhard Gentzen, in: Deutsche Mathematik 1938, S. 260[9]
„Das Prädikat ‚genial‘ ist hier richtig am Platz. Wer die Arbeiten betrachtet, die die Hilbert-Schule in diesen Tagen produzierte (um es anachronistisch zu sagen, ein ‚Paradies der Hacker‘), der wird Gentzens Methode wie ein Wunder der Schönheit erfahren. Außenseiter denken sehr schnell bei Logik (und Mathematik) an eine langweilige Arbeit für Trauerklöße, aber man kann mir auf mein Wort glauben, dass man es hier zu tun hat von [sic!] einer Schönheit von fast symphonischen Format.“
Über die Existenz unabhängiger Axiomensysteme zu unendlichen Satzsystemen. In: Mathematische Annalen. Band107 (2), 1932, S.329–350 (Online).
Untersuchungen über das logische Schließen. I. In: Mathematische Zeitschrift. Band39 (2), 1935, S.176–210 (Online).
Untersuchungen über das logische Schließen. II. In: Mathematische Zeitschrift. Band39 (3), 1935, S.405–431 (Online).
Nachdruck in: Karel Berka, Lothar Kreiser: Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik, Berlin: Akademie 4. Aufl. 1986, Seite 206–261
Die Widerspruchsfreiheit der Stufenlogik. In: Mathematische Zeitschrift. Band41, 1936, S.357–366 (Online).
Die Widerspruchsfreiheit der reinen Zahlentheorie. In: Mathematische Annalen. Band112, 1936, S.493–565 (Online).
Der Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik. Vortrag, gehalten in Münster am 27. Juni 1936 am Institut von Heinrich Scholz. In: Semester-Berichte Münster. 1937, S.65–80.
Unendlichkeitsbegriff und Widerspruchsfreiheit der Mathematik. In: Actualites scientifiques et industrielles. Band535, 1937, S.201–205.
Die gegenwärtige Lage in der mathematischen Grundlagenforschung. In: Deutsche Mathematik. Band3, 1938, S.255–268.
Neue Fassung des Widerspruchsfreiheitsbeweises für die reine Zahlentheorie. In: Forschungen zur Logik und zur Grundlegung der exakten Wissenschaften. Band4, 1938, S.19–44 (Online).
Beweisbarkeit und Unbeweisbarkeit von Anfangsfallen der transfiniten Induktion in der reinen Zahlentheorie. In: Mathematische Annalen. Band119, 1943, S.140–161 (Online).
posthum erschienen
Zusammenfassung von mehreren vollständigen Induktionen zu einer einzigen. In: Archiv für mathematische Logik und Grundlagenforschung. Band2 (1), 1954, S.81–93 (Online).
Der erste Widerspruchsfreiheitsbeweis für die klassische Zahlentheorie. In: Archiv für mathematische Logik und Grundlagenforschung. Band16, 1974, S.97–118 (Online). – Veröffentlicht von Paul Bernays.
Über das Verhältnis zwischen intuitionistischer und klassischer Arithmetik. In: Archiv für mathematische Logik und Grundlagenforschung. Band16, 1974, S.119–132 (Online). – Veröffentlicht von Paul Bernays.
Gerhard Gentzen: The normalization of derivations. In: The Bulletin of Symbolic Logic. 14. Jahrgang, 2008, S.245–257 (cambridge.org). – Veröffentlicht von Jan von Plato.
Werke
M. E. Szabo (Hrsg.): The Collected Papers of Gerhard Gentzen. North-Holland, Amsterdam 1969, ISBN 0-7204-2254-X.
Literatur
Dirk van Dalen: Ein Logiker unter den Nazis – der geniale Gelehrte Gentzen war vor allem naiv.NRC Handelsblad, Ausgabe vom 13./14. Juli 2002, Wetenschap & Onderwijs, S. 33, Review des Buches von Menzler-Trott, deutsche Übersetzung.
Marc Dressler: Gentzens Sequenzen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22. November 2009, S. 64.
Christian Tapp: An den Grenzen des Endlichen: Das Hilbertprogramm im Kontext von Formalismus und Finitismus. Springer Spektrum, Berlin Heidelberg 2013, Kapitel 12.
Eckart Menzler-Trott: Gentzens Problem. Mathematische Logik im nationalsozialistischen Deutschland. Mit einem Essay von Jan von Plato. Birkhäuser Verlag, Basel 2001, ISBN 3-7643-6574-9. Englische Übersetzung Logic's Lost Genius: The Life of Gerhard Gentzen (= History of Mathematics, Band 33). American Mathematical Society 2007.
Jan von Plato: Saved from the Cellar : Gerhard Gentzen’s Shorthand Notes on Logic and Foundations of Mathematics. Springer, Cham 2017, ISBN 978-3-319-42119-3.
↑Dirk van Dalen: Ein Logiker unter den Nazis. Der geniale Gelehrte Gentzen war vor allem naiv. In: NRC Handelsblad. Wetenschap Onderwijs, Rotterdam 13. Juli 2002, S.33ff. (fu-berlin.de [PDF]): „Die vollkommene Arglosigkeit mit der Gentzen die Politik behandelte, oder eigentlich "negierte", zeigt sich an einer Postkarte, die er 1934 an seinen vormaligen inoffiziellen Begleiter Bernays schickte. [...] Die Postkarte an Bernays enthielt neben etwas technischem Inhalt auch die folgende kuriose beiläufige Mitteilung: "Ich bin auch in die SA eingetreten, da es mir von verschiedenen Seiten dringend angeraten
wurde."“
↑Wohl für ballistische Studien zur so genannten Vergeltungswaffe 2 für Werner Osenberg. Zumindest war dies die offizielle Begründung, vergl. Eckart Menzler-Trott: Gentzens Problem.
↑Pinl: Kollegen in einer dunklen Zeit. In: Jahresbericht DMV. 1976, Pinl selbst warnte ihn
↑Offiziell an Kreislaufversagen. Laut Berichten des Mithäftlings Franz Krammer gab es eine Eiweißsperre und der gesundheitlich angeschlagene Gentzen verhungerte. Hinzu kam, dass er nicht arbeiten konnte (wofür es Extrarationen gab), nachdem eine Frau ihm mit einem Steinwurf zwei Finger zerschmettert hatte, als die Häftlinge wie üblich tagsüber in Prag zur Zwangsarbeit waren. Vgl. Sanford L. Segal: Mathematicians under the Nazis. Princeton University Press 2003, S. 470.