Genevieve Liggett wurde als Tochter von James Wesley Liggett und seiner Ehefrau Ada J. Gauntier geboren und wuchs mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester auf.
Der Bruder Richard Green Liggett (1880–1941) betrieb in den 1910er und 20er Jahren in Kansas City das Gene Gauntier Theatre, ein großes Kino. Ihre Schwester Marguerite Gauntier Liggett (1891–1973) heiratete 1909 den schwedischen Milliardär Axel Wenner-Gren, der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch die von ihm mitfinanzierte und nach ihm benannte Alwegbahn (Axel Lennart Wenner-Gren) bekannt wurde, und ließ sich in Berlin zur Opernsängerin ausbilden.
Genevieve Liggett besuchte die Fulton and Trueblood School of Oratory in ihrer Heimatstadt Kansas City, eine der angesehensten Schulen des Landes zur Vermittlung der freien Rede. 1904 begab sie sich nach New York City und begann ihre Bühnenlaufbahn unter dem Namen Gene Gauntier. In den Zeiten zwischen ihren Theaterengagements übernahm sie Rollen in Filmen. Dabei gehorchte sie der Not, denn sie war wie viele ihrer Theaterkollegen davon überzeugt, dass Filmrollen ihrem Ansehen als Theaterschauspielerin abträglich sein würden. Ihre erste Filmrolle war 1906 ein Stunt in dem Film The Paymaster der American Mutoscope and Biograph Company, in dem sie in einen Fluss geworfen wurde. Die Rolle und der Film waren belanglos, aber Gauntier lernte am Set Frank J. Marion und Sidney Olcott kennen, im folgenden Jahr Mitgründer und Regisseur der Kalem Company. Anschließend übernahm Gauntier die weibliche Hauptrolle in George Ades Bühnenkomödie The County Chairman, die in ihrer Heimatstadt Kansas City im Grand Opera House aufgeführt wurde.
1907 kam Gauntier zur neu gegründeten Kalem Company. Nach wenigen Monaten war sie das Kalem Girl, angelehnt an das Biograph Girl (nacheinander Florence Lawrence, Marion Leonard und Mary Pickford) des Wettbewerbers American Mutoscope and Biograph Company. Seinerzeit vermieden die Filmgesellschaften jegliche Nennung der Namen ihrer wichtigsten Darsteller, um sich keinem teuren Wettbewerb um diese Angestellten aufdrängen zu lassen. Der Name des Unternehmens und die Titel der Filme standen in der Werbung im Vordergrund. Auch die Schauspieler zogen im Film, anders als im Theater, die Anonymität vor. Schon nach wenigen Monaten bei der Kalem spielte Gauntier 1907 in wöchentlich zwei meist actionreichen Filmen die weibliche Hauptrolle. Im selben Zeitraum schrieb sie zwei bis drei Drehbücher, die meisten für Filme, in denen sie selbst mitspielte. Ihre große Produktivität wurde möglich, weil sie die Motive der Drehbücher aus dem Fundus ihrer früheren Theaterrollen entnehmen konnte. Nach einer Unterbrechung für ein Theaterengagement wurde Gauntier 1908 gebeten, Drehbücher zu schreiben, bei der Regie zu assistieren, und – wenn sie das möchte – Rollen zu spielen. Die Biograph Company bot ihr zur selben Zeit an, als Drehbuchautorin und Leiterin von Studio und Produktion einzusteigen.[1][2]
Gauntier blieb vier Jahre bei der Kalem und war der kreative Kopf des Unternehmens, sie und Sidney Olcott hatten niemanden über sich und in der Produktion freie Hand. Die kleine Gruppe der miteinander befreundeten künstlerisch verantwortlichen Mitarbeiter der Kalem Company wurde in Bezug auf die Aktivitäten in Irland die O’Kalems und später, im Zusammenhang mit einer Orientreise, die El Kalems genannt. Rückblickend gab Gauntier an, bei fast allen der 500 Filme, in denen sie mitwirkte, das Drehbuch selbst verfasst zu haben. Weitere Aufgaben waren Locationscout, Ko-Regisseurin mit Sidney Olcott, Verfassen und Anfertigen der Zwischentitel und die Werbung für die Produktionen.[3]
Pionierleistungen Gauntiers als Drehbuchautorin umfassen nach ihrem ersten Drehbuch für Tom Sawyer, mit dem die Figur aus Mark TwainsDie Abenteuer des Tom Sawyer erstmals im Film erscheint, den ersten Film über den Amerikanischen Bürgerkrieg (The Days of '61) und die erste Verfilmung des Stoffs von Ben Hur, einem 1880 von Lew Wallace veröffentlichten Roman (Ben Hur). Die Inhaber der Rechte an dem Roman, Harper and Brothers, die Produzenten der Theaterproduktion, Marc Klaw und A. L. Erlanger und die Erben von Lew Wallace verklagten den Edison Trust, die Kalem Company und Gene Gauntier wegen der Verletzung ihres Urheberrechts. Das Verfahren ging bis vor den United States Supreme Court, der 1911 die Filmindustrie dem Urheberrecht unterwarf und die in Drehbüchern fixierte Struktur eines Films als Objekt mit einem materiellen Wert erkannte. Damit war die Zeit der hemmungslosen Verwertung fremden geistigen Eigentums vorbei, seither muss vor der Verwertung einer Vorlage das Nutzungsrecht erworben werden. Aber auch die Arbeit der Drehbuchautoren wurde drastisch aufgewertet, indem Drehbüchern ebenfalls urheberrechtlicher Schutz zugesprochen wurde.[4]
Gene Gauntier reiste wiederholt mit einem Team der Kalem nach Irland, um dort Drehbücher zu verfassen und Filme zu drehen. Filme, die in Irland spielten, waren ein beliebtes Sujet, denn sie lockten in den Städten mit einem hohen Anteil irischstämmiger Einwanderer zahlreiche Zuschauer an. Nach dem Erfolg einer ersten Reise mit kleiner Besetzung, bei der 1910 A Lad from Old Ireland gedreht wurde, ging 1911 ein großes Team auf die Reise, bei der unter anderem Arrah-na-Pogue und The Colleen Bawn entstand. Um den Betrieb in den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten, wurde dort zusätzliches Personal eingestellt. Die Wintermonate, während denen Außenaufnahmen in New York nur stark eingeschränkt möglich waren, verbrachte dieselbe Mannschaft geschlossen im sonnigen Florida.[3][5]
Ende 1911 reiste das Kalem-Team um Gauntier, Olcott und Clark nach Kairo und Jerusalem. Wie bei den Filmen zuvor war der Geschäftsleitung von Kalem nicht wirklich bekannt, was produziert werden sollte. Frank J. Marion erteilte jedoch die Anweisung, bei der Verfilmung von christlichen Themen Jesus Christus allenfalls schemenhaft und als Symbol darzustellen. Im Heiligen Land hatte Gauntier die Idee, eigenen Angaben zufolge im Delirium nach einem Sonnenstich, die Passion Christi zu verfilmen. Rasch wurden in New York zusätzliche Schauspieler angefordert, auch Marion traf sich in Europa mit Sidney Olcott und widerrief seine ursprüngliche einschränkende Anweisung. Im Oktober 1912 erschien mit From the Manger to the Cross die Verfilmung der Lebensgeschichte Jesu Christi, das Drehbuch stammte von Gauntier, die auch die Rolle der Jungfrau Maria spielte. Der Film wurde ein großartiger Erfolg. Gauntier heiratete während der Dreharbeiten ihren Kollegen, den Schauspieler und Regisseur Jack J. Clark, der im Film den Apostel Johannes darstellte.[6][7][8][9]
Unmittelbar nach der Rückkehr nach New York ging es wieder nach Irland und Schottland. Das Chaos der im Aufbau befindlichen Filmindustrie hatte kreative Frauen wie Gene Gauntier, die aufgrund ihrer überragenden Leistungen allgemein anerkannt waren, lange Zeit begünstigt. Um 1910 begannen sich die Strukturen der Filmindustrie zu verändern, die unternehmerischen Strukturen verfestigten sich und die Leitungen der großen Unternehmen waren von Männern dominiert. Enttäuscht von dieser Entwicklung, die auch die Kalem als ein Mitglied des Edison Trust erfasste, gründete Gauntier im Dezember 1912 gemeinsam mit ihrem Ehemann Jack J. Clark und Sidney Olcott ihre eigene Produktionsfirma, die Gene Gauntier Feature Players Company. Damit ging sie einen Weg, den mehrere Kolleginnen beschritten, so Florence Lawrence mit ihrer Victor Company, Helen Holmes (Signal Film Company), Flora Finch (Flora Finch Company und Film Frolic Picture Corporation) und Marion Leonard (Gem Motion Picture Company, Monopol Film Company und Mar-Leon Corporation).[7][5][10]
Im November 1912 und bei späteren Gelegenheiten reiste Gauntier mit ihrer eigenen Belegschaft ebenfalls nach Irland, Olcott war als Regisseur mit dabei. Für die Gene Gauntier Feature Players Company entstanden so zum Beispiel For Ireland's Sake im Jahr 1914. Mit derartigen Filmen, für die Gauntier meist das Drehbuch schrieb und eine Hauptrolle übernahm und Olcott als Regisseur fungierte, wurde das Unternehmen zu einem ernsthaften Konkurrenten der Kalem Company.[11][12]
Bemerkenswert war die Rolle der Nan, einer jungen Frau aus den Südstaaten, deren Rolle Gauntier bereits bei der Kalem Company in mehreren Filmen verkörpert hatte. Die Rolle entwarf sie während Winteraufnahmen der Kalem in Jacksonville in Florida. Das Thema der jungen Spionin hinter den feindlichen Linien fand beim Publikum großen Anklang, und Gauntier nahm die Rolle mit in ihre eigene Produktionsgesellschaft. Mit A Daughter of the Confederacy konnte sie Anfang 1913 nahtlos an alte Erfolge anknüpfen. Über die Rolle hinaus war von Bedeutung, dass die früheren Bürgerkriegsfilme fast immer die Heldentaten der Nordstaatenarmee und ihrer Soldaten glorifizierten. Die Filme um die Spionin Nan zeigten hingegen den Sezessionskrieg aus der Perspektive der Südstaaten, mit Soldaten und Bürgern der Südstaaten als Protagonisten.[13][14]
Zum Jahresbeginn 1914 verließ Sidney Olcott das Unternehmen, um seine eigene Sid Olcott International Features zu gründen.[15] Die Gene Gauntier Feature Players Company bestand bis Anfang 1915, als Gauntier einen Vertrag bei den Universal Studios unterschrieb und für kurze Zeit nach Hollywood zog. Gauntier konnte sich jedoch mit den neuen Produktionsmethoden nicht anfreunden und stieg aus dem Filmgeschäft aus.[16][17]
Im Januar 1918 wurde die Ehe Gauntiers und Clarks in Kansas City geschieden. 1919 arbeitete sie als Theater- und Filmkritikerin vorübergehend bei der Kansas City Post.[7] Im Alter von 35 Jahren drehte Gauntier 1920 noch einen Film, Witch's Gold, und verließ das Filmgeschäft endgültig. Sie hatte in 87 Filmen mitgespielt und nach offiziellen Angaben 42 Drehbücher geschrieben, tatsächlich waren es mehrere Hundert. In einem Interview gab sie 1924 an, dass ihr der frühere Enthusiasmus abhandengekommen war. Sie habe sich ausgebrannt und kraftlos gefühlt und die Arbeit unter den neuen Rahmenbedingungen der Filmproduktion habe sie als Belastung empfunden. Sie sei froh, dass es ihr gelungen sei die Filmindustrie so früh zu verlassen, dass ihr noch ein paar Erinnerungen an die „gute, alte Zeit“ verblieben.[3]
Privates
Nach ihrem endgültigen Rückzug aus dem Filmgeschäft ging Gauntier auf Dauer nach Europa, wo bereits ihre Schwester lebte. In den 1920er Jahren lebte sie während des Winters mit ihrer Schwester in der Laboratoriumsgatan 10 im Diplomatenviertel Stockholms, in der von dem Architekten Ivar Tengbom gebauten Villa Tillberg des Unternehmers und Parlamentsabgeordneten Knut Tillberg. Von März bis Juni reiste sie durch Europa, meist nach Italien und Frankreich, und den Sommer verbrachte sie auf einer Insel an der Westküste Schwedens. Sie verfasste eine Autobiografie mit dem Titel Blazing the Trail, die 1928 und 1929 gekürzt als Serie im Woman's Home Companion erschien. Das Manuskript befindet sich in der Sammlung des Museum of Modern Art Department of Film in New York City. Daneben verfasste sie zwei Romane, 1929 Cabbages and Harlequins und 1933 Sporting Lady.[18][7] Gene Gauntier starb 1966 im Alter von 81 Jahren in Cuernavaca in Mexiko. Sie liegt mit ihrem Schwager Axel Wenner-Gren und ihrer Schwester Marguerite im Park von Schloss Häringe in Västerhaninge, Schweden begraben.
1915: Gene of the Northland (Regie: Jack J. Clark)
Romane
Cabbages and Harlequins, a Novel. Coward-McCann, New York 1929, OCLC5398835.
Sporting Lady. 1933.
Literatur
Eileen Bowser: The transformation of cinema, 1907–1915 (= History of the American cinema, Band 2). Charles Scribner's Sons, New York City 1990, ISBN 0-684-18414-1.
↑Karen Ward Mahar: True Womanhood in Hollywood: Gendered Business Strategies and the Rise and Fall of the Woman Filmmaker, 1896–1928. In: Enterprise and Society, März 2001, Band 2, Nr. 1, S. 72–110, doi:10.1093/es/2.1.72.
↑Kay Armatage: The Girl from God’s Country. Nell Shipman and the Silent Cinema. University of Toronto Press, Toronto, Buffalo und London 2003, ISBN 0-8020-4414-X.
↑ abcFrederick James Smith: Unwept, Unhonored and Unfilmed, S. 67 und S. 101–102.
↑Edward Azlant: Screenwriting for the Early Silent Film: Forgotten Pioneers, 1897–1911. In: Film History 1997, Band 9, No. 3, S. 228–256, JSTOR:3815179.
↑ abEileen Bowser: The transformation of cinema, 1907–1915, S. 152–155.
↑Jeffrey L. Staley: From the Manger to the Cross (1912). In: Adele Reinhartz (Hrsg.): Bible and Cinema: Fifty Key Films. Routledge, Abingdon und New York 2013, ISBN 978-0-415-67720-2, S. 98–103.
↑ abcdFrederick James Smith: Unwept, Unhonored and Unfilmed, S. 102.
↑Edward Wagenknecht: From the Manger to the Cross. In: Anthony Slide und Edward Wagenknecht (Hrsg.): Fifty Great American Silent Films 1912–1920. A Pictorial Survey. Dover Publications, New York 1980, ISBN 0-486-23985-3.
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