Ein schönes und fleißiges Mädchen wird von seiner Stiefmutter mit immer schwereren Aufgaben gequält. Erst muss es an einem Tag zwölf Pfund Federn abschleißen, dann einen See mit einem löchrigen Löffel leeren, dann ein Schloss bauen. Jedes Mal kommt eine alte Frau und hilft ihm, während es schläft. Bei der Begehung des Schlosskellers stürzt sich die Stiefmutter zu Tode. Das Mädchen verlobt sich mit einem Königssohn. Als dieser das Einverständnis seines Vaters zur Hochzeit einholen will, küsst sie ihn auf die linke Wange und wartet unter einer Linde, bevor sie ihn nach drei Tagen suchen geht. Da niemand von ihm weiß, lebt sie einige Jahre traurig als Hirtin. Zweimal reitet ihr Geliebter, den eine andere Königstochter heiraten will, an ihr vorbei, ohne sie zu erkennen. Auf dem dreitägigen Fest tanzt sie mit ihm einen Abend in einem Kleid mit Sonnen, dann in einem mit Monden und schließlich in einem mit Sternen. Als sie ihn auf die linke Wange küsst, erkennt er sie. Sie heiraten im Schloss der wahren Braut.
Im mittleren Abschnitt spricht das Mädchen als Hirtin zu ihrem Kälbchen ein Gedicht:
„Kälbchen, Kälbchen, knie nieder, vergiß nicht deine Hirtin wieder, wie der Königssohn die Braut vergaß, die unter der grünen Linde saß.“
Dabei scheint das Kälbchen für ein Kind oder ihren Mann zu stehen. Als sie das Gedicht in seiner Nähe das zweite Mal spricht hält er an, hält „die Hand vor die Augen, als wollte er sich auf etwas besinnen, aber schnell ritt er weiter und war bald verschwunden.“ Basiles tragisches Märchen Viso klingt hier doch deutlich nach.
Herkunft
Das Märchen steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab der 5. Auflage von 1843. Die 6. Auflage änderte nur wenige Formulierungen: Die Wetterfahne dreht sich „wie eine goldene Jungfrau mit fliegendem Gewand“. Der Prinz bei der Hirtin, sich besinnend, hält die Hand vor die Augen. Zur 7. Auflage letzter Hand hängen die Kronleuchter statt „in den Sälen“ nun „von der Bühne herab“. Grimms Anmerkung vermerkt nur die Quelle „aus der Oberlausitz“ in Moriz HauptsZeitschrift für deutsches Alterthum (Nr. 2, 1842, S. 481–486). Dort ist das Schloss nicht näher beschrieben und auch am Schluss nicht mehr erwähnt. Das Gedicht spricht sie einmal allein und einmal in seiner Hörweite, aber „leise und mit zitternder Stimme“. Es lautet so:[1]
„kälbchen, knie nieder und vergiß deiner ehre nicht, wie der prinz Lassmann die arme Helene vergaß, als sie unter der grünen linde saß.“
Edzard Storck sieht die Aufgaben als Läuterungen, das Schloss als den Körper mit seinem Innenleben, die Linde als den Lebensbaum des Paradieses, das Sternenkleid ist das wahre Hochzeitsgewand (Mt 22 EU).[2] Laut Wilhelm Salber bewegen hier Maßlosigkeit und sich klein machen einander. Er bringt das Beispiel einer Dreißigjährigen, die ihre „wahre Gestalt“ nur in anspruchslosem Erfüllen und Benörgeln fremder Aufgaben fand.[3]
Fernsehen
1987 wurde das Märchen von Jim Henson im Rahmen seiner Sendung The Storyteller verfilmt. Diese Version hält sich eng an die Geschichte der Gebrüder Grimm, jedoch wird die Stiefmutter durch einen bösen Troll ersetzt, anstatt einer alten Frau hilft ein weißer Löwe beim Erfüllen der Aufgaben und der Prinz wird nicht von einer anderen Prinzessin, sondern von der hässlichen Tochter des Trolls verhext. Beide Trolle finden durch das Eingreifen des Löwen im Keller des Brautschlosses den Tod.
Moriz Haupt: Ein Märchen aus der Oberlausitz. In: Moriz Haupt (Hrsg.): Zeitschrift für deutsches Alterthum. Zweiter Band. Weidmann, 1842, ISSN1619-6627, S.481–486 (Online).
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. 19. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf / Zürich 2002, ISBN 3-538-06943-3, S.755–761.
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen. Hrsg.: Henz Rölleke. 1. Auflage. Band3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Reclam, Stuttgart 1980, ISBN 3-15-003193-1, S.267, 511.
Heinz Rölleke: Grimms Märchen und ihre Quellen. Die literarischen Vorlagen der Grimmschen Märchen synoptisch vorgestellt und kommentiert (= Schriftenreihe Literaturwissenschaft. Band35). 2. Auflage. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2004, ISBN 3-88476-717-8, S.440–453, 579.
Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung, Wirkung, Interpretation. De Gruyter, Berlin / New York 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S.382–383.